JULIA SOMMERLIEBE Band 21
das war ihr bewusst, löste sich ihr sorgfältig zusammengesteckter Dutt.
Als sie endlich die robuste, verwitterte Holztür des Leuchtturmwärterhäuschens erreichte, hatte sie sich damit abgefunden, vollkommen ramponiert auszusehen. Ein schneller, kontrollierender Blick auf ihr Spiegelbild in einem der Fenster bestätigte das Schlimmste. Ihr schulterlanges Haar, dessen wilde und zerzauste Locken sie mühsam gebändigt hatte, kräuselte sich munter in der feuchten Luft. Leider war keine Zeit mehr, die störrischen rötlich-braunen Strähnen zurück in eine seriöse Frisur zu zwingen. Eilig zog Vivian die wenigen verbliebenen Haarnadeln heraus und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, um ihre Mähne wenigstens etwas zu ordnen.
Mit einem tiefen Atemzug strich sie über ihren Rock und pochte laut an die Tür. Niemand kam.
Einige Augenblicke später klopfte sie erneut. Wieder keine Antwort. Als sich auch auf ihr nächstes Klopfen niemand meldete, drückte sie die Klinke nach unten. Zu ihrer Überraschung ließ sich die Tür öffnen. Zögernd spähte sie in das Haus hinein.
„Hallo? Ist hier jemand? Mr. Rose? Sind Sie da?“ Die Tür fiel mit einem dumpfen Klang hinter ihr ins Schloss. Erschrocken zuckte Vivian zusammen.
Vorsichtig schritt sie die schmale Diele entlang, die in einen großen, spärlich möblierten Raum mündete. Jede Wand war mit deckenhohen Regalen ausgestattet, in denen sich unzählige Bücher stapelten.
Eine breite, abgenutzte braune Ledercouch stand vor dem rußgeschwärzten Kamin und eine große antike Truhe aus glänzendem Wurzelholz diente offensichtlich als Couchtisch. Neben einem Fenster, das einen atemberaubenden Blick auf das Meer freigab, befanden sich ein Rollpult und ein Stuhl. Durch ein Bullauge konnte man die glatte, weiße Oberfläche des nahen Leuchtturms sehen. Einige wenige Teppiche dämpften die Schritte auf dem polierten Parkettboden. Aber es gab keinerlei Accessoires, keine Pflanzen, Gemälde oder Fotografien, die den Raum wohnlich gemacht hätten. Nichts verriet den enormen Reichtum des Eigentümers. Lediglich die Bücher verliehen dem Raum eine persönliche Note.
Wie der Leuchtturm war auch das Cottage augenscheinlich nur dazu ausgelegt, dem ununterbrochenen Zerren von Stürmen zu trotzen: Die Innenwände bestanden aus dem gleichen dicken, unbearbeiteten Zement wie die Außenhülle. Unruhig fragte Vivian sich, ob das Haus auch dazu gedacht war, Stürme, die hier drin tosten, zu ertragen. Der geheimnisvolle und etwas seltsame Mr. Rose, mit dem Marvel-Mitchell Realties in der Vergangenheit erfolgreich und friedlich über einen Anwalt geschäftlich zusammenarbeitet hatte, entwickelte sich mehr und mehr zu einem eiskalten und rücksichtslosen Strategen, der alle Fäden in der Hand halten wollte. Keinen Augenblick zweifelte sie daran, dass diese Wartezeit von ihm geplant war und sie zum Schwitzen bringen sollte.
Oder er hatte beabsichtigt, hier niemals aufzutauchen.
Vivian erschauerte. Sie stellte ihre Aktentasche neben den Schreibtisch und begann auf- und abzugehen, um ihre wachsende Anspannung zu beherrschen. In dem kargen Raum war nicht eine einzige Uhr zu finden. Immer wieder hatte sie während der letzten zehn Minuten auf ihre Armbanduhr geblickt. Der Kapitän hatte ihr mitgeteilt, das Boot werde in einer Stunde wieder ablegen. Wenn Mr. Rose bis dahin nicht aufgetaucht war, würde sie einfach gehen. Wie um ihre Entscheidung zu bestätigen, nickte sie kurz.
Um sich die Zeit zu vertreiben, machte Vivian sich frisch. Sie trug Lippenstift auf und bürstete ihr widerspenstiges Haar. Leise schalt sie sich, dass sie keine weiteren Haarnadeln eingesteckt hatte. In diesem Moment wurden ihre rastlosen Gedanken von einem derart ohrenbetäubenden, rhythmischen Klopfen überdröhnt, dass die Wände zu wackeln schienen. Sie drehte sich zum Fenster und sah einen schnittigen weißen Hubschrauber, der auf einer flachen Schilfinsel unterhalb des Cottages zur Landung ansetzte.
Während der Helikopter zum Stehen kam, öffnete sich die Tür der Hubschrauberkabine und zwei Männer stiegen aus. Geduckt kämpften sie gegen den Auftrieb der langsamer werdenden Rotorblätter. Vivian spürte, wie sie immer wütender wurde.
Nicholas Rose besaß einen Hubschrauber! Anstatt ihr eine Ewigkeit auf dem schwankenden Boot zuzumuten, hätte er sie in wenigen Minuten auf die Insel fliegen können! In der Zeit, die sie auf der aufgewühlten See verbracht hatte, hätte er mit seinem Fluggerät sogar nach
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