JULIA SOMMERLIEBE Band 21
lediglich einen Schock und Prellungen erlitten.
Erleichtert stellte Vivian fest, dass er diesen Punkt nicht weiter verfolgte. Stattdessen strich er mit einem Finger über die vernarbte Haut und sagte einfach: „Fliegende Glasscherben. Mein Augenlid bestand nur noch aus Fetzen, aber meine Sehkraft hatte anscheinend nur vorübergehend nachgelassen. Doch Monate später entzündete sich die Wunde. Ein winzig kleiner Glassplitter war hinter das Auge gewandert …“
Und sie jammerte voller Selbstmitleid über banale Kopfschmerzen! „Und … dein Bein?“
„Es ist nicht so schlimm, wie das Hinken vielleicht vermuten lässt. Ich kann im Grunde – wie früher – alles damit machen.“
„Außer zu rennen.“
Vivians Gedanken schweiften in die Vergangenheit. Mehrere Tage nach dem tragischen Unfall hatte sie zufällig einen Teil der geflüsterten Konversation zwischen ihren Eltern gehört. Ihr Vater hatte erzählt, dass die Thornes an jenem Abend doppelten Grund gehabt hatten zu feiern: An jenem Tag war Nicholas’ 25. Geburtstag, gleichzeitig hatte er gerade erfahren, dass er als Läufer die Qualifikation für das olympische Team Neuseelands erreicht hatte.
„Oh, laufen kann ich noch immer. Eben nur nicht wie ein Weltklasse-Sprinter“, sagte er trocken und riss sie damit aus ihren Überlegungen.
„Ich verstehe …“ Sie waren sowieso schon an einem schmerzhaften Punkt angelangt, dachte sie, für Ausflüchte und Höflichkeiten war nicht die rechte Zeit. Deshalb nahm sie allen Mut zusammen, um eine Frage zu stellen, die sie all die Jahre beschäftigt hatte. „Und … du hast nie mehr geheiratet?“
„Nein.“
Die knappe Antwort sagte mehr als tausend Worte. „Es tut mir so leid“, erklärte sie mit erstickter Stimme. Tiefe Selbstvorwürfe und Mitgefühl schwangen darin.
Der Ausdruck auf seinem Gesicht verdüsterte sich gefährlich. Doch als er sah, wie ernst es ihr war, und die Ehrlichkeit in ihren schmerzerfüllten Augen erkannte, entspannte er sich wieder. Sein Blick glitt über ihren Körper und er lächelte sie so unheilvoll an, dass ihr ganz übel wurde.
„Ich frage mich, wie sehr es dir leid tut?“
„Wie meinst du das?“ Unsicher legte sie die Hand an ihren pochenden Kopf. Sie war einfach unfähig, sich in ihrem Zustand mit seiner Unberechenbarkeit auseinanderzusetzen. In einem Augenblick schien er charmant, ja, fast schon liebenswürdig. Im anderen war er voll überschäumenden, unbarmherzigen Hasses.
Vielleicht war sie noch gar nicht erwacht? War diese ganze entsetzliche Reise einfach nur ein sehr langer, unglaublich schlechter Traum?
„Hast du Schwierigkeiten, dich zu konzentrieren, Vivian?“
„Mein Kopf …“, murmelte sie unter Schmerzen und verabscheute sich gleichzeitig dafür, dass sie in seiner Gegenwart Schwäche zeigte.
„Möchtest du noch ein Schlückchen zur Entspannung nehmen? Champagner scheint bei dir Wunder zu wirken. Er macht dich sehr … gefügig“, meinte er anzüglich.
Vivian erstarrte. „Das kommt nicht vom Champagner, sondern von dem Gift, das du hineingemischt hast!“, gab sie bissig zurück.
Ohne den geringsten Schimmer von Gewissensbissen begegnete er ihrem vorwurfsvollen Blick. „Ich versichere dir, es ist ein sehr anständiges Beruhigungsmittel. Seit Generationen wird es in Kriminalromanen als das Betäubungsmittel verwendet, das ganze Heerscharen von Spionen bevorzugt benutzen, um jemanden außer Gefecht zu setzen. Es klingt vielleicht etwas abgedroschen, aber es ist doch sehr effektiv: Es ist geschmacklos, geruchlos, es löst sich rückstandslos auf und wirkt äußerst schnell. Mag sein, dass du dich eine Weile so fühlst, als hättest du einen Kater, aber du wirst keine bleibenden physischen Schä den davontragen. Zumindest nicht von der Droge …“
Sie war nicht in der Stimmung, seine Andeutungen zu verstehen. Ihr fiel es ja sogar schwer, die einfachsten, auf der Hand liegenden Fakten zu begreifen.
„Wo bin ich überhaupt?“, erkundigte sie sich heiser und sah sich in dem kleinen, keilförmigen Raum um.
„Im Leuchtturm. Ich lasse ihn gerade zu Wohnzwecken umbauen. Man könnte fast sagen, wir befinden uns in der Penthouse-Suite.“
Vivian zuckte zusammen. In ihrem hämmernden Schädel klangen seine Worte, als sei sie dem Untergang geweiht. Sie hob auch die andere Hand und massierte ihre schmerzhaft klopfenden Schläfen. Dabei versuchte sie verzweifelt, sich daran zu erinnern, wie sie mit ihrem schlimmsten Feind im Bett gelandet war. Mit
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