JULIA SOMMERLIEBE Band 21
in der Dunkelheit. „Der einzige verschlossene Raum in König Blaubarts Schloss. Hattest du keine Furcht vor dem, was du vorfinden könntest, wenn du einfach den Schlüssel nimmst?“
„Das hier ist kein Schloss und du bist nicht König Blaubart“, entgegnete sie und wehrte sich gegen das mächtige Bild, das er schlau versuchte heraufzubeschwören. König Blaubart, der seine Frau allein auf seinem Schloss zurücklässt, wo sie in einer verschlossenen Kammer die Leichen seiner ermordeten Ehefrauen findet.
„Du hattest nur eine Frau“, erklärte sie, ohne sich von ihm einschüchtern zu lassen. „Und ich weiß eines sicher, dass du sie nicht getötet hast.“
Grübelnd sah er sie über den Rand seines Glases an. „Ach, ja! Meine geliebte Frau. Frank sagte mir, dass du neugierig auf sie bist …“
Mit einem Mal war Vivian sich sicher, dass Nicholas unweigerlich seine Selbstbeherrschung verlieren würde. Der Anspannung, die sich tobend in seinen Gesichtszügen zeigte, die in seinem rastlosen Auge brodelte, drängte danach, sich zu entladen.
„Ich bin in der Stimmung, jemandem Gewalt anzu tun …“
Sie konnte diesen Satz nicht vergessen. Vivian wurde immer nervöser. Verstohlen rieb sie ihre feuchten Handflächen an ihren Oberschenkeln. Da spürte sie eine Ausbuchtung in ihrer Hosentasche, die sie längst vergessen hatte.
Die Idee, die ihr durch den Kopf schoss, bedurfte keiner weiteren Überlegung. Fest schlossen sich ihre Finger um das Glasfläschchen.
„Ich würde gerne etwas Wasser trinken“, bat sie mit unschuldiger Miene.
Er erhob sich und bewegte sich in seiner ihm üblichen Schnelligkeit und Genauigkeit. Vivian wusste, dass er trotz des Weines noch immer gefährlich und hellwach war. Nur seine Hemmschwelle hatte er gesenkt und somit die Ketten gelockert, die seine wilden inneren Dämonen fesselten.
In dem Augenblick, in dem er sich dem Spülbecken zuwandte, zog sie das Betäubungsmittel hervor. Hastig entfernte sie den Deckel, um ein paar Tropfen in sein gefülltes Weinglas fallen zu lassen. Aber ihre Bewegung war wohl zu hektisch. Voller Entsetzen beobachtete sie, wie die durchsichtige Flüssigkeit aus der Öffnung herausschwappte.
Ihr blieb keine Zeit, das Fläschchen mit dem Deckel zu verschließen und es wieder in ihre Tasche gleiten zu lassen. Da Nicholas sich umdrehte, konnte sie es nur an ihrem Schoß entlang unter den Tisch gleiten lassen. Dankend nahm sie das Glas Wasser entgegen, das er ihr reichte. Ihre versteckte Hand zitterte so sehr, dass sich die restliche Arzneiflüssigkeit feucht und nass in den Stoff entleerte, der ihre Hüfte bedeckte. Wild klopfte ihr das Herz in der Brust.
„Du wolltest mehr über Barbara erfahren …“
Vivian sagte kein Wort. Sie sah ihm mit vor Schreck weit geöffneten Augen fasziniert zu.
Er nahm erneut Platz und trank einen großen Schluck von seinem Wein, bevor er wieder sprach.
Wilde Gedanken jagten durch ihren Kopf. Oh, Gott, welcher Wahnwitz hatte sie da geritten? Was, wenn sie ihm zu viel verabreicht hatte und er starb?
„Der größte Fehler meines arroganten, jungen Lebens …“
Fehler? Vivian wurde aus ihrer verzweifelten Ablenkung gerissen. Hatte sie richtig gehört?
Sein Mund verzog sich, als er ihren Gesichtsausdruck sah. „Du dachtest, es sei eine Liebesheirat gewesen? Der Fehlschlag des Jahrhunderts trifft es wohl eher. Es war die Idee meines Vaters. Er ist ein äußerst befehlsgewohnter Mann und ich bin sein einziger Sohn, sein größter Stolz.“ Nach einer Weile fügte er hinzu: „Und seine größte Enttäuschung. Wir stritten uns beinahe wegen allem. Als ich vom Auslandsstudium heimkehrte, war er sehr krank. Er nutzte meine Gefühle gekonnt aus und nahm mir das Versprechen ab, mich mit seiner Patentochter zu verheiraten. Ich wollte ihm diesen Wunsch nicht abschlagen, nicht in seinem Gesundheitszustand. Also heirateten wir. Unnötig zu erwähnen, dass er anschließend auf wundersame Weise genas.“
„Dann habt ihr euch nach der Hochzeit ineinander verliebt?“, fragte Vivian und versuchte, Ordnung in ihre wirre Gedankenwelt zu bringen.
„Liebe gehörte nie zu dieser Verbindung. Wie mein Vater betrachtete Barbara unsere Ehe als Sicherung ihrer Macht und ihres Vermögens. Von Anfang an lebten wir beide jeweils unser eigenes Leben. Sie duldete mich höflich in ihrem Bett, da sie sich so einen dauerhaften Platz in der Thorne-Dynastie verschaffen konnte. Vermutlich war das ein Teil ihres Handels mit meinem Vater. Und ich
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