JULIA SOMMERLIEBE Band 21
habe mitgemacht, aus gleichsam egoistischen Gründen. Ich wollte nicht, dass irgendetwas meine Vorbereitung für die olympischen Auswahlspiele störte.“
Nachdenklich legte er eine Pause ein. Vivian hielt den Atem an und hoffte, dass er seine faszinierenden Enthüllungen vorsetzte. Endlich erfuhr sie mehr über ihn.
„Dann teilte Barbara mir mit, sie sei schwanger. Erst in jenem Moment begriff ich, was für eine dauerhafte Falle mein Vater mir gestellt hatte. Doch sie war ganz und gar nicht dauerhaft: Am folgenden Tag wurden sie und das Baby getötet …“
Erneut griff er nach dem Weinglas. Unwillkürlich streckte Vivian in einer protestierenden Geste die Hand aus.
„Oh nein, bitte trink das nicht!“ Ungeschickt versuchte sie, ihm das Glas aus der Hand zu schlagen.
„Wieso nicht? Hast du Angst, ich könnte ohnmächtig werden, bevor ich meine Seele vor dir entblößt habe?“
Abrupt hielt er inne. Auf seinem Gesicht konnte sie deutlich lesen, was in ihm vorging. Erst war es Zweifel, als er den Blick von ihrem starren, entsetzten und schuldbewussten Ausdruck zu seinem Glas wandern ließ. Doch er war scharfsinnig und es dauerte nicht lange, bis ihm das Unmögliche dämmerte. Seine Zweifel wurden von wildem Zorn abgelöst, der seine Züge verzerrte.
„Mein Gott, stimmt etwas nicht damit? Was hast du in meinen Wein getan? “
Mit einem Schrei stürzte er über den Tisch, die brennenden Kerzen flogen auf den Boden.
Vivians Stuhl krachte hintenüber, als sie auf die Füße sprang, das leere Fläschchen auf ihrem Schoß kullerte zu Boden. Aber sie wollte nicht warten, bis er es erkannte. Sie flüchtete.
Stürmisch rannte sie den Flur entlang und stürzte in blinder Panik durch die Tür des Leuchtturms. Durch den im Treppenhaus angebrachten Bewegungsmelder löste sie das Licht aus, sodass sie keine wertvolle Zeit verschwenden musste, nach einem Lichtschalter zu suchen. Schon polterte sie die metallenen Stufen hinauf, als ihr einfiel, dass es an den Türen keine Schlösser gab. Sie konnte sich nirgends verstecken! Doch nun war es zu spät. Am Vibrieren der Stufen unter ihren Füßen spürte sie, dass noch jemand anderer auf der Treppe war. Er hatte die Verfolgung mit Verspätung aufgenommen, aber jetzt donnerten seine Schritte unter ihr.
Kurz vor dem vierten Treppenabsatz erwischte er sie. Er gab sich nicht einmal die Mühe, sie aufzuhalten. Die unbändige grimmige Kraft, die er in seiner Raserei ausstrahlte, war genug, um sie dazu zu bewegen, in seiner Reichweite zu bleiben. Mit seiner bedrohlich wirkenden Statur drängte er sie weiter nach oben. Erst als sie den Absatz vor seinem Zimmer erreicht hatten, legte er Hand an sie: Er schnappte sich ihr rechtes Handgelenk und schleuderte sie von der Treppe weg, durch die Tür und mit dem Rücken an die Wand. Dort drängte er sich an sie und hielt sie mit seinem kräftigen Körper gefangen. Mit der anderen Hand schlug er auf den Lichtschalter.
Das Licht ging an und urplötzlich sah sie sich seinem Blick gegenüber, der unverhüllten, schäumenden Zorn offenbarte.
„Wie viel hast du mir verabreicht?“, knurrte er ungehalten.
In dem Zimmer war es kalt. Er war so dicht vor ihr, dass ihre Brille von seinem Atem beschlug. Seine Lippen streiften die ihren in einer wütenden Parodie eines Kusses.
„Die ganze verdammte Flasche? Wie viel, verdammt? Sprich!“, schrie er und schüttelte sie.
„Ich weiß es nicht! Ein bisschen nur! Einen Teelöffel vielleicht, ich weiß es nicht!“, keuchte sie verzweifelt. „Ich habe den Rest verschüttet, deshalb ist die Flasche leer. Es tut mir leid, Nicholas. Ich bin in Panik geraten, du hast mich so sehr erschreckt …“ Nun flehte sie ihn an, aber es war ihr egal. „Bitte! Es tut mir leid!“
„ Leid ?“, donnerte er. Heftig schüttelte er den Kopf, wie um sich Klarheit zu verschaffen. Doch die Droge entfaltete allmählich ihre Wirkung.
„Vielleicht setzt du dich besser, bevor du noch hinfällst und dich verletzt“, schlug sie umsichtig vor und fühlte sich selbst erbärmlich schwach. Sie machte sich die schwersten Vorwürfe. Wieso hatte sie das nur getan?
„Vielleicht sollte ich das“, stimmte er ihr bedächtig zu. Er riss sie fort von der Wand und zerrte sie mit hinüber zum Bett. Als er sich setzte, zog er sie zu sich und nahm etwas aus der Hosentasche.
Sie spürte, wie sich eine kalte metallische Klammer um ihr Handgelenk schloss. Gerade noch rechtzeitig blickte sie herunter, um zu sehen, wie die andere
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