Julia Sommerliebe Band 22
Oder, genauer gesagt, nicht einmal seinen dreiunddreißigsten.
Nachdem das Rauschen in seinen Ohren ein wenig abgeklungen war, ermahnte er sich immer wieder: „Du musst die Dinge nehmen, wie sie kommen.“
Das war so leicht gesagt.
Jahrelang in Selbstdisziplin geübt, gelang es ihm, Ruhe zu bewahren. Eine eisige Ruhe. „Wie viel Zeit bleibt mir noch?“
Pierre Henri strich seinen Anzug glatt und stand langsam auf. Bei seinem Ansehen hatte er keinen weißen Kittel nötig, um sich Respekt zu verschaffen. Er durchquerte den Raum, nahm die Röntgenbilder vom Leuchtschirm und ließ sie in den Umschlag gleiten. Dabei suchte er nach den passenden Worten.
Einem Patienten niederschmetternde Diagnosen beizubringen war eine der Tätigkeiten in seinem Beruf, die er am wenigsten schätzte. Aber so etwas gehörte auch dazu, und Pierre Henri stand in dem Ruf, hierin sehr einfühlsam zu sein. Normalerweise hatte er in solchen Situationen keine Probleme, die richtigen Worte zu finden.
Er wusste, wie wichtig die Körpersprache war – es kam nicht nur darauf an, was man sagte, sondern auch, wie man es tat. Natürlich hatte er auch gelernt, dass man behutsam vorgehen und unbedingt das Positive betonen musste, auch wenn es in einer solchen Lage kaum etwas Positives zu sagen gab. Aber für den Kranken machte so eine Ermutigung einen riesigen Unterschied.
So unterschiedlich seine Patienten auch waren, aufgrund jahrelanger Erfahrung wusste Pierre Henri, wie er mit jedem Einzelnen zu sprechen hatte.
Selbstverständlich gab es auch Ausnahmen. Und dieser Mann ist eine davon, dachte er, als er sich wieder auf seinen Stuhl sinken ließ.
Der finstere Blick seines Gegenübers hielt seinen fest, und Pierre merkte, wie er nervös wurde. Er war ein angesehener Arzt und ließ sich normalerweise nicht verunsichern. Doch nun, als ihn der Kronprinz von Zantara mit unergründlichem Blick aus silbergesprenkelten Augen ansah, schien es, als hätten Arzt und Patient die Rollen vertauscht.
Obwohl Rafik Al Kamil gerade eben die schlimmste Diagnose überhaupt erfahren hatte, war er derjenige, der das Heft in der Hand hatte.
Pierre wusste, dass es sinnlos war, zu versuchen, sich in seinen Patienten hineinzuversetzen. Dieser Mann war undurchschaubar – und zudem ein Einzelgänger. Keine dieser Eigenschaften war in seiner Macht und seinem Reichtum begründet. Obwohl die königliche Familie von Zantara in dieser Hinsicht Pierres oftmals begüterte und einflussreiche Patienten bei Weitem übertraf.
Pierre war ratlos. Erschütterung, Nicht-wahrhaben-Wollen und Wut – die Reaktionen waren so unterschiedlich wie die Patienten. Alles das hatte er immer wieder erlebt. Aber in seiner ganzen beruflichen Laufbahn war ihm noch nie jemand untergekommen, der überhaupt nicht reagierte.
Wie war es möglich, jemandem zu helfen, der den Eindruck machte, als benötige er keine Unterstützung?
Oft wirkte es Wunder, jemanden zur rechten Zeit freundschaftlich an der Schulter zu tätscheln, aber in diesem Fall wäre diese Geste unangemessen gewesen. Sie konnte als Respektlosigkeit verstanden werden und wäre möglicherweise sogar Hochverrat.
„Ich muss Sie also drängen, Herr Doktor.“
Pierre zuckte zusammen und wurde rot.
Zum ersten Mal zeigte der Prinz eine Regung, und zwar Ungeduld. Diese Reaktion war einschüchternd. Das hier war keine Gleichgültigkeit, sondern …
Pierre schüttelte den Kopf, ihm fiel kein passendes Wort dafür ein. Er als Nichtbetroffener verspürte mehr Wut und Verbitterung, als dieser junge Mann zu empfinden schien. Nie hatte Pierre seinen Patienten solche niederschmetternden Diagnosen mitteilen können, ohne sich dabei schlecht zu fühlen. Noch schwerer traf es ihn, wenn die betroffene Person noch ihr ganzes Leben vor sich gehabt hätte, wenn der Patient in der Blüte seiner Jahre stand. Dann erschien es ihm weitaus tragischer und sinnloser.
Plötzlich kam dem Arzt in den Sinn, dass die Haltung des Prinzen vielleicht daher rührte, dass ihm nicht klar war, wie schlecht es um ihn stand. Er rückte seine Brille zurecht und sah den Anwärter auf den Thron von Zantara freundlich an. „Vielleicht habe ich mich undeutlich ausgedrückt, Prinz Rafik?“
„Ich muss zugeben, dass mir manche der medizinischen Fachausdrücke nicht geläufig sind.“
Das bezweifle ich, dachte der Franzose. Er ließ sich von der Äußerung nicht irreführen. Der intelligente Blick des jungen Prinzen war ihm von Anfang an aufgefallen. Und spätestens anhand
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