Julia Sommerliebe Band 22
seinen eigenen Regeln. Aber zunächst hatte er noch unglaublich viel zu erledigen.
Entschlossen ging er hinaus ins Freie.
Eine halbe Stunde später fand Rafik sich in den Stallungen wieder, ohne eine Ahnung zu haben, wie er dorthin gekommen war.
Hassan, der Stallbursche, der Rafik als Kind auf sein erstes Pferd gesetzt hatte, näherte sich ihm.
„Prinz Rafik“, begrüßte ihn der ältere Mann und neigte den Kopf. Er verhielt sich respektvoll, ohne unterwürfig zu sein.
„Hassan.“ Rafik lächelte freudlos.
„Wünschen Sie, dass ich Ihnen ein Pferd sattle?“
Rafik streckte eine Hand aus und berührte das ihm am nächsten stehende Pferd an der Flanke. „Warum nicht?“, antwortete er gleichgültig.
Durch die Wüste zu reiten war für ihn jedes Mal eine äußerst lebensbejahende Erfahrung gewesen. Und noch war er am Leben. In anstrengenden Zeiten fand er in der Wüste immer wieder zu sich selbst. Der Anblick und der Klang dieser alterslosen Landschaft machten seinen Kopf frei und halfen ihm, sich zu sammeln.
„Seine Laune ist nicht die beste“, warnte Hassan und sah dabei den Prinzen an. „Er ist unruhig und braucht Bewegung.“
Diese Information war überflüssig – der schwarze Hengst, der Rafik gebracht wurde, rollte mit den Augen und bäumte sich auf.
„Aber das gilt vielleicht auch für Sie …?“ Der ältere Mann brach ab, denn er hielt es für klüger, sich seine Sorge um den Prinzen nicht allzu direkt anmerken zu lassen.
Er hatte den Prinzen aufwachsen sehen. Aus dem lebhaften, munteren Jungen war ein starker, entschlossener und energischer Mann geworden.
Trotzdem war Prinz Rafik fähig, für jeden Menschen Mitgefühl aufzubringen, außer für sich selbst. Kurz gesagt – er war ein Mann, der all das verkörperte, was man von einem Staatsoberhaupt erwartete.
Manchmal, wenn der Prinz sich unbeobachtet glaubte, meinte Hassan, den kleinen Jungen von damals vor sich zu sehen, der früher die Ställe unsicher gemacht hatte. Den Jungen, dessen Verschwinden er bedauerte.
Jeder Mann braucht einen Platz, an dem er ganz er selbst sein kann, dachte Hassan. Es bekümmerte ihn, dass die Stallungen für den Prinzen das waren, was einer solchen Zufluchtsstätte am nächsten kam.
Lächelnd trat Rafik einen Schritt vor. „Da magst du recht haben.“ Er bedachte den Stallknecht mit einem freundlichen Blick. „Danke, Hassan. Ich werde mich nur schnell umziehen.“
„Es ist mir stets eine Freude, Ihnen zu Diensten zu sein, Prinz Rafik.“
Gabby hatte sich höflich ausgewiesen, aber ihr wäre auch kaum etwas anderes übrig geblieben. Zwei bärtige Männer in schwarzen, fließenden Gewändern hatten sich ihr in den Weg gestellt. Und zu großen, schwarz gekleideten Männern war Gabby grundsätzlich höflich – vor allem, wenn ihre Hände die juwelenbesetzten Griffe von Krummsäbeln umschlossen. Doch wahrscheinlich dienten diese barbarisch aussehenden Waffen nur zur Zierde – das hoffte sie zumindest.
Sie hatte ein großes Risiko und erhebliche Strapazen auf sich genommen, um hierher zu gelangen. Aber das war ihre letzte Hoffnung. Gabby gehörte zu den Menschen, bei denen das Glas halb voll war – und nicht halb leer. Allerdings war der ihr angeborene Optimismus in den letzten zwei Tagen auf eine harte Probe gestellt worden.
An der versteinerten Miene des größeren der beiden Männer ließ sich nicht ablesen, ob er auch nur ein Wort von dem verstand, was sie sagte. Darum erklärte sie es noch einmal langsam und untermalte ihre Worte mit beschreibenden Gesten. „Ich habe eine Verabredung“, log sie. „Ich habe mich verirrt. Der König erwartet mich.“
Wortlos musterte sie der Mann – sicher entging ihm nicht, wie abgerissen sie aussah. Gabby war überzeugt, dass ihr Schuld und Verzweiflung ins Gesicht geschrieben standen. Noch nie war sie gut darin gewesen, ihre Gefühle zu verbergen.
Sie hätte sich anders anziehen sollen. Dann wäre ihre Geschichte vielleicht glaubwürdig gewesen. Wahrscheinlich kam es eher selten vor, dass irgendwelche Leute in dreckigen Jeans und zerrissenen T-Shirts vom König zum Tee empfangen wurden.
„Auf dem Weg hierher hatte ich einen kleinen Unfall“, erzählte sie dem schweigenden Mann und fuhr sich durch das zerzauste Haar. Es war ohnehin schwer zu bändigen, aber ausgerechnet jetzt verlieh es ihr sicherlich das Aussehen einer typischen Wahnsinnigen in einem Film.
Als der Mann endlich wieder etwas sagte, wandte er sich nicht an Gabby, die er misstrauisch
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