Julia Sommerliebe Band 22
der Fragen, die dieser ihm gestellt hatte, hatte er erkannt, dass sein Patient mit einem messerscharfen Verstand ausgestattet war.
„Bitte unterbrechen Sie mich, wenn ich mich irre“, begann Rafik und dachte dabei: Bitte unterbrechen Sie mich unbedingt. Lassen Sie das alles nur ein großes Missverständnis sein. „Ich habe eine seltene Erkrankung des Blutes, und zwar in einem so weit fortgeschrittenen Stadium, dass keine Hoffnung mehr auf Heilung besteht.“ Fragend hob er seine dunklen Brauen. „Gibt es sonst noch etwas, was ich wissen sollte?“
Pierre Henri räusperte sich. „Sie fragen sich sicherlich, warum es ausgerechnet Sie getroffen hat?“
Rafik stand auf, um seinen Hemdsaum in den Hosenbund zu stecken, und zuckte mit den Schultern. Er zögerte, bevor er antwortete.
Mit seinen zwei Metern erschien er dem sitzenden Pierre wie ein Riese. Breitschultrig, langbeinig und muskulös, wie er war, stach Rafik hervor, auch ohne sein makelloses Gesicht von klassischer männlicher Schönheit.
„Warum nicht ich?“ Warum sollte ausgerechnet er von den grausamen Launen des Schicksals ausgenommen sein? Es gab genügend Unschuldige, die ein wesentlich schlimmeres Los getroffen hatte, und er war nicht unschuldig. Aber er hatte noch eine Mission zu erledigen.
Wahrscheinlich dachte jeder in dieser Situation, dass er mehr Zeit brauchte. Aber bei Rafik war es wirklich so – er hatte keine Zeit zu verlieren.
„Da haben Sie natürlich recht. Eine sehr … gesunde Ansicht. Eine fabelhafte Haltung.“
„Also, wie viel Zeit bleibt mir noch?“
Der Arzt senkte den Kopf und blickte zu Boden. „Nun ja … das lässt sich nicht so genau sagen.“
Das bedeutete nichts Gutes. Rafik stellte sich auf das Schlimmste ein. „Und was würden Sie als Fachmann schätzen?“
„Wenn Sie wollen, können Sie eine zweite Meinung einholen.“
Viele Patienten, die mit einer so schrecklichen Diagnose konfrontiert wurden, taten das. Vor allem solche, deren finanzielle Mittel es zuließen, im Privatjet Ärzte aus Paris einfliegen zu lassen.
„Sind Sie nicht der Beste in Ihrem Fachgebiet?“
Rafik wusste, dass er eigentlich etwas hätte empfinden sollen … doch was? Hilflosigkeit, Wut, Resignation, nahm er an. Aber nach dem ersten Schreck in dem Moment, in dem er begriffen hatte, wie es um ihn stand, hatte er kaum etwas anderes empfunden als Eile. „Wie viel Zeit bleibt mir noch?“
„Das ist schwer einzuschätzen, aber ich würde sagen, sechs …“
Rafik bemerkte, wie unwohl dem Arzt zumute war, aber er hatte kein Mitleid mit ihm. Stattdessen steigerte sich seine Ungeduld. „Sechs – was? Tage? Wochen? Monate?“ In keinem dieser Fälle würde er genug Zeit haben, um seinen jüngeren Bruder auf die Rolle des Thronfolgers vorzubereiten.
„Sechs Monate.“
Nichts an der Haltung des jungen Mannes verriet, dass man ihm gerade eben sein Todesurteil verkündet hatte.
„Selbstverständlich verläuft die Krankheit nicht immer gleich. Und wenn Sie die Schmerztherapie, über die wir gesprochen haben …“
„Wird diese Therapie mich beeinträchtigen? Hat sie Einfluss auf mein Denkvermögen?“
Der Arzt bestätigte die Frage mit einem Kopfnicken. „Aber Sie könnten damit ein halbes Jahr an Zeit gewinnen.“
Rafik machte eine wegwerfende Handbewegung. „Kommt nicht infrage.“
„Ich kann Ihren Zustand wöchentlich überprüfen.“
„Wie Sie wünschen, Herr Doktor.“
„Es tut mir sehr leid, Hoheit.“
Auf diese Mitleidsbekundung reagierte der junge Mann mit einem kalten, verächtlichen Blick. „Das ist nett von Ihnen“, sagte er aufgesetzt lächelnd, bevor er sich entschuldigte und den Raum verließ.
Auf dem Gang konnte Rafik Al Kamil die Maske fallen lassen. All seine Gefühle drängten explosionsartig an die Oberfläche. Er stieß einen Fluch aus und schlug mit der Faust gegen die Wand.
Durch die halb geschlossenen Lider sah er noch immer das Mitleid im Gesicht des Franzosen. Mitleid! So etwas konnte und wollte er überhaupt nicht ertragen. Er schauderte bei dem Gedanken, den gleichen mitleidigen Gesichtsausdruck in den Gesichtern all derjenigen Menschen zu sehen, die ihm gegenübertraten.
Er biss die Zähne zusammen, und eiserne Entschlossenheit und Stolz kehrten in sein aristokratisch geschnittenes Gesicht zurück. Das würde nicht passieren. Geräuschvoll stieß er den Atem aus. Auf keinen Fall würde er Angstgefühle zulassen oder in Selbstmitleid verfallen. Er würde sterben, wie er gelebt hätte: nach
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