Julia Sommerliebe Band 22
nachgedacht. Hätte sie mehr Zeit zum Planen gehabt, dann hätte sie jetzt womöglich eine ungefähre Vorstellung vom Grundriss des Palastes.
Als sie wieder Schritte hörte, schreckte sie auf. Instinktiv ging sie zu einer kleinen Wendeltreppe rechts von sich und erklomm sie hastig.
Oben stand Gabby in einer kleinen Halle. Vor ihr befand sich eine altertümliche Tür mit Metallbeschlägen. Als sie die Schritte näher kommen hörte, holte Gabby tief Atem und stemmte sich gegen die Tür. Erleichtert, dass sie nach innen aufging, trat sie in den Raum und schloss die Tür hinter sich. Dann drehte sie den großen Schlüssel im Schloss herum und schob mehrere schwere Riegel vor, bevor sie sich mit heftig klopfendem Herzen gegen die massive Holztür lehnte.
Nachdem sich ihr Herzschlag einigermaßen beruhigt hatte, sah sie sich in dem Raum um. Im Gegensatz zu den anderen Räumen, auf die sie im Vorbeilaufen einen Blick erhascht hatte, war dieses Zimmer recht zwanglos mit einer Mischung aus antiken und modernen Stücken eingerichtet.
Eine Wand war voller Bücher, von denen einige aufgeschlagen auf einem großen Intarsientisch lagen, und eine andere Wand war durch schwere, zugezogene Vorhänge verdeckt. Das Licht, welches an den Rändern hindurchfiel, ließ vermuten, dass sich hinter den Vorhängen ein Fenster verbarg.
Plötzlich versiegte der Adrenalinstoß, der sie bis hierher gebracht hatte. Den Rücken gegen das Holz gepresst, glitt Gabby langsam die Tür hinunter und ließ den Kopf auf die angewinkelten Knie sinken.
2. KAPITEL
Rafik stand auf dem Balkon und blickte über die leuchtenden, vergoldeten Türme und die darunterliegende Stadt. Über die palmengesäumten Alleen, die weißen, geometrischen Gebäude, die Ackerflächen, die man der Wüste abgerungen hatte. Und weiter bis zu der undeutlich in der Ferne erkennbaren Bergkette, die die östliche Grenze Zantaras bildete.
Unzählige Male schon hatte er diesen Ausblick genossen, doch nie zuvor hatte er dabei eine solche Bitterkeit empfunden.
Zantara hatte sich in den letzten Jahren so stark entwickelt, dass es kaum wiederzuerkennen war. Trotzdem gab es noch viel zu tun – und Rafik war immer ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass er derjenige sein würde, der tatkräftig handelte. Dass er das Land in das einundzwanzigste Jahrhundert führte, indem er auf dem schmalen Pfad zwischen Tradition und Fortschritt wandelte. Enttäuschung und ein Gefühl schmerzvollen Verlustes griffen wie eine kalte, eiserne Klaue nach seinem Herz.
Er schloss die Augen, und die Gefühle, die er die ganze Zeit zu unterdrücken versuchte, seitdem er die niederschmetternde Diagnose erhalten hatte, drängten mit Macht an die Oberfläche.
Dann straffte er sich, biss die Zähne zusammen und fuhr sich durch das dunkle Haar. Er konnte sich nicht erlauben, emotional zu reagieren. Jetzt musste er sich konzentrieren. Er hatte viel zu tun, und dafür blieb ihm wenig Zeit.
Seine Funktion und sein Titel würden auf seinen Bruder übergehen. Und sosehr er den jüngeren Bruder liebte, wusste er doch, dass Hakim für diese Position völlig ungeeignet war.
Zantara war sehr reich an natürlichen Ressourcen. Das Land verfügte nicht nur über große Erdölreserven, sondern auch über weitere unerschlossene Bodenschätze. Vernünftig verwaltet, garantierten diese Ressourcen der Bevölkerung Zantaras jahrzehntelangen Wohlstand. Doch die Zustimmung der Funktionäre zu den langfristigen Zielen, die Rafik und sein Vater verfolgten, war allzu häufig nichts weiter als ein bloßes Lippenbekenntnis.
Reformen wurden begrüßt und beklatscht, aber im Zweifelsfall war vielen der Menschen in entscheidenden Positionen der persönliche Gewinn wichtiger als Ideale und Moral.
Als Thronfolger wurde Rafik seit Jahren von einflussreichen Familien umgarnt, die sich nichts sehnlicher wünschten als die Heirat des Prinzen mit einer ihrer Angehörigen. So würden sie – das hofften sie zumindest – uneingeschränkten Zugriff auf den Thron haben.
Zantara wurde von den Nachbarländern um seine politische Stabilität beneidet, doch Rafik wusste, wie schnell sich die Dinge ändern konnten, und wie wenig es bedurfte, um die zerbrechliche Harmonie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Bereits die Mutmaßung, dass eine der mächtigen Familien des Landes bevorzugt wurde, konnte alles ins Wanken bringen.
Rafik, der nicht vorhatte, eine solche Situation entstehen zu lassen, fühlte sich durch derartige politische Manöver
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