Julia Sommerliebe Band 22
sich nicht mit den kleinen Leuten herumschlagen, sondern musste gleich direkt zur Chefetage gehen, wie Gabbys Vater immer zu sagen pflegte.
Und wer sollte in einem ölreichen Wüstenstaat über dem König stehen? An ihn würde sie sich mit dem Fall ihres Bruders wenden.
Dass sie den zwei Wachmännern in die Arme laufen musste, war Pech, aber kein allzu großer Rückschlag.
Mit Rücksicht auf ihre schmerzenden Gesichtsmuskeln hörte sie auf zu lächeln. Gerade fragte sie sich, ob es vielleicht besser wäre, sich dumm zu stellen, als ein weiterer schwarz gekleideter Mann mit versteinerter Miene erschien – erfreulicherweise ohne einen Krummsäbel.
Der Mann betrachtete Gabby von oben bis unten. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er sie für harmlos hielt. In perfektem Englisch verkündete er, dass er sie nach draußen begleiten würde.
„Ich habe eine Verabredung mit dem König!“ Je öfter ich es wiederhole, desto weniger überzeugend klingt es, dachte Gabby.
„Das ist mir bereits gesagt worden. Aber anscheinend liegt hier ein Irrtum vor – ich werde das umgehend überprüfen. Für heute hat der König keine Termine. Bitte entschuldigen Sie vielmals die Unannehmlichkeiten, Miss …?“
„… Barton.“
„Miss Barton. Ich muss Sie leider bitten, zu gehen und einen neuen Termin auszumachen.“
Er war zwar äußerst höflich, aber ohne Zweifel war trotz seines tadellosen Benehmens nicht mit ihm zu spaßen. Ein gewinnendes Lächeln würde bei ihm nichts bewirken.
„Das ist ein guter Vorschlag. So werde ich es machen.“
„Eine weise Entscheidung.“
Gabby, nicht gerade für ihre Fähigkeit berühmt, ein Nein zu akzeptieren, gab sich kleinlaut. Sie plapperte dummes Zeug daher, auf das er nach wenigen Minuten nicht mehr antwortete, und wartete auf ihre Chance. Und dann hoffte sie, dass sie diese Chance nutzen könnte, sofern sie sich ihr bieten würde.
Die Chance kam tatsächlich.
Gerade hatten sie einen breiten Flur mit Mosaikfußboden betraten – sie hatten bereits mehrere solcher Flure durchquert –, als ihr Begleiter stehen blieb. Er wechselte ein paar Worte mit einem untersetzten Mann, der, anders als die meisten Menschen, denen Gabby hier begegnet war, nicht bis an die Zähne bewaffnet war. Als ihr Begleiter sich von Gabby entfernte, um auf den kleineren Mann zuzugehen, kam es ihm überhaupt nicht in den Sinn, dass sie seine höfliche Anweisung ignorieren könnte, hier bitte auf ihn zu warten.
Gabby setzte ein harmloses Lächeln auf und beobachtete ihn, bis er neben dem anderen Mann stand. Dann rannte sie los und lief, die Rufe und Geräusche, die ihr folgten, nicht beachtend, den Flur entlang, bis sie in einen schmaleren Gang abbog. Kaum, dass sie dies getan hatte, befand sie sich in einem Gewirr von engen Gängen. Das Klappern ihrer Schuhabsätze hallte in den leeren Fluren laut nach.
Sie rannte Gänge entlang und Treppen hinauf, bis sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Erschöpft hielt sie inne und ließ, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, ihren Oberkörper vornüberfallen, sodass ihr langes, honigblondes Haar den Boden berührte. Keuchend rang sie nach Luft.
Sie versuchte, nicht an die vielen bewaffneten Männer zu denken, die sie hier gesehen hatte. Hastig zog sie ihre Schuhe aus, steckte sie in die hinteren Taschen ihrer Jeans und lief weiter, jetzt etwas langsamer und vorsichtiger.
Die Korridore bildeten ein regelrechtes Labyrinth, das sich meilenweit zu erstrecken schien. Nur zweimal hatte sie in der letzten halben Stunde Schritte und laute Stimmen vernommen – vermutlich von dem Suchtrupp, den man sicher auf sie angesetzt hatte.
Als sie die Schritte und Stimmen zum dritten Mal hörte, klangen sie viel näher. Mit klopfendem Herzen drückte sie sich gegen eine Wand. Als ob man davon unsichtbar werden würde, dachte sie.
Ihr Vater, der immer sehr nachsichtig mit ihr gewesen war, hätte gesagt, dass sie unüberlegt gehandelt hatte. Eher leichtfertig und verantwortungslos, hätte ihre Mutter erwidert, und in diesem Fall hätte Gabby ihrer Mutter recht geben müssen.
Was hatte sie denn bisher erreicht – abgesehen davon, dass am Abend möglicherweise zwei Bartons hinter Schloss und Riegel saßen?
Gabby war wütend auf sich selbst. Ihr war klar gewesen, dass sie vorher mehr Informationen hätte sammeln müssen. Aber als sich ihr diese einmalige Gelegenheit geboten hatte – ein abgelenkter Fahrer und ein geöffneter Lieferwagen –, hatte sie nicht lange
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