Julia Sommerliebe Band 22
genauso überrascht war wie er. Anscheinend war dieses Zusammentreffen nicht eingefädelt.
Trotzdem konnte Rafik die Situation nicht recht einschätzen. In den letzten Jahren war er häufig verfolgt worden, und die Frauen, die es auf ihn abgesehen hatten, überraschten ihn immer wieder mit ihrem Einfallsreichtum und ihrer Gabe, sich zu verstellen.
Da Rafik absolut nicht eitel war, kam ihm gar nicht in den Sinn, dass seine Attraktivität der Grund dafür war, dass manche Frauen alles Mögliche taten, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Er nahm an, dass sein Titel und sein Reichtum die Frauen anzogen. An dem alten Sprichwort, dass Macht ein starkes Aphrodisiakum sei, war durchaus etwas Wahres.
In der Vergangenheit hatte er sich immer wieder gefragt, ob er jemals eine Frau finden würde, die ihn wollte, und nicht das, was er darstellte. Oder sogar trotz dessen, was er darstellte.
Über die reine Spekulation war er nie hinausgegangen, denn ihm war ohnehin klar, dass die Wahl seiner Braut keine romantische, sondern eine politische Entscheidung sein würde. Auch die Ehe seiner Eltern war so zustande gekommen, und bis auf den großen Altersunterschied war ihre Beziehung harmonisch. Sie respektierten einander, und keiner von beiden war mit falschen Erwartungen in die Ehe gegangen.
Zwei Söhne waren aus der Verbindung entstanden, die die negativen politischen Auswirkungen der ersten Heirat seines Vaters aus der Welt schafften. Jene Hochzeit war eine Liebesheirat gewesen. Das an sich war nicht das Problem, sondern der Umstand, dass König Zafirs erste Frau ihm keinen Thronfolger gebären konnte.
Weil der König sich nachdrücklich geweigert hatte, die Liebe seines Lebens zu verlassen, geriet die seit Generationen andauernde Herrschaft des Königshauses ernsthaft in Gefahr. Schließlich wurde die Königin doch noch unerwartet schwanger, aber die Freude darüber war nur von kurzer Dauer. Königin Sadira hatte eine Frühgeburt und starb an den Komplikationen bei der Niederkunft. Das Kind – ein Junge – überlebte sie gerade mal um eine Woche.
Jedenfalls wurde Rafiks Vater fast verrückt vor Kummer, und ohne seine starke Hand, die das Land führte und zusammenhielt, spaltete sich die Bevölkerung in zwei verfeindete Lager auf. Es entstanden ernsthafte politische Unruhen.
Rafik konnte sich seinen Vater, wie er heute war, kaum als einen liebestrunkenen Mann vorstellen, dem die Liebe wichtiger als seine Verpflichtungen war. Noch unvorstellbarer war jedoch für ihn, den Fehler seines Vaters zu wiederholen.
Jetzt hatte dieses Thema ohnehin keine Bedeutung mehr für ihn. Für ihn würde es keine Hochzeit, keine Ehe und keine Zukunft geben.
Hier brach er den Gedanken ab, um nicht in einen Sumpf aus Selbstmitleid und Resignation zu versinken. Er fuhr sich durchs Haar und zog widerwillig die Brauen zusammen. Bei sich selbst verabscheute er Selbstmitleid noch mehr als bei anderen Menschen, denn das war ein Zeichen von Schwäche, die er sich nicht gestattete.
Jetzt war es sinnvoller, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu konzentrieren. Zum Beispiel auf diese blonde Frau, deren leuchtend blaue Augen noch immer auf ihn gerichtet waren.
Mit diesen Augen und dem langen, gewellten, hellblonden Haar würde sie aus jeder Menschenmenge hervorstechen. Ihr lebhaftes Gesicht erinnerte ihn an ein Gemälde von Tizian, vom Hals abwärts jedoch war sie eher ein Degas. Ihr schlanker, biegsamer Körper hätte einer der von dem Maler porträtierten Balletttänzerinnen gehören können.
Ihr hübsches Gesicht war dreckverschmiert, und die dunklen Schatten unter den Augen ließen sie erschöpft aussehen. Sie wirkte zierlich und zerbrechlich und gehörte zu den Frauen, die in vielen Männern Beschützerinstinkte weckten.
Rafiks prüfender Blick wanderte von ihrem trotzig vorgereckten Kinn über ihre störrischen, misstrauischen Augen hin zu ihrer schmollend vorgeschobenen Unterlippe.
Schließlich begann sie sich aufzurichten.
Rafik bemerkte, dass sie zitternd die Hand ausstreckte, um sich an etwas festzuhalten, und wollte ihr aufhelfen.
Sie bedachte seine ausgestreckte Hand mit einem Blick, als handelte es sich um eine giftige Schlange, ignorierte sie und versuchte weiter, auf die Beine zu kommen.
Rafik zuckte mit den Schultern und zog die Hand zurück. Er machte keine weiteren Anstalten, ihr zu helfen, obwohl sie so schwach und zittrig aussah wie ein neugeborenes Kätzchen.
Er mochte unabhängige Frauen – aber nur, wenn sie ihre
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