Julia Sommerliebe Band 22
nicht bedroht, sie belustigten ihn eher.
Aber Hakim wollte allen gefallen, und er war leicht zu beeinflussen. Gerade das machte ihn einerseits sehr sympathisch, aber andererseits auch zu einer leichten Beute für jene berechnenden Menschen, die auf ihre Chance bei Hof lauerten.
Wenn Hakim Thronfolger wäre, würde er das Ziel ihrer Belagerung sein. Wann es dann zur Katastrophe kommen würde, wäre nur eine Frage der Zeit.
Hakim braucht jemanden, der ihn führt, einen Menschen mit Rückgrat, dachte Rafik. Jemanden, der ihm die Kraft für schwere Entscheidungen gibt und die Schmeichler und Betrüger durchschaut.
Plötzlich fiel ihm die Lösung ein. Sie war einfach und naheliegend. Sein Bruder brauchte eine Frau – eine, die gut für ihn war, natürlich –, die auf diese machtvolle Position vorbereitet wäre.
Rafik ging in Gedanken die Liste der möglichen Kandidatinnen durch, doch keine von ihnen kam infrage.
Missmutig runzelte er die Stirn. Diese Aufgabe erforderte eine ganz besondere Frau. Er rieb sich den Nacken, an dem noch Sand von seinem Ritt durch die Wüste hing.
Rafik hatte seine gesamte Reitkunst aufbringen müssen, um sich im Sattel zu halten. Der Araberhengst, der Stolz der Stallungen, hatte sich wohl von seiner Laune anstecken lassen und war durch die Wüste gejagt, als sei der Teufel hinter ihm her. Den wilden Galopp hatte er nur unterbrochen, um zu versuchen, seinen Reiter abzuwerfen.
Die einzige Kandidatin, die auch nur ansatzweise seine Anforderungen erfüllte, war …
Rafik konnte den Gedanken nicht zu Ende denken, da er in diesem Moment eine Stimme vernahm. Er hörte sie sehr deutlich und sie klang sehr weiblich.
„Und nun, Gabby? Was passiert jetzt?“
Entweder waren akustische Halluzinationen ein Symptom seiner Krankheit, das der Arzt zu erwähnen vergessen hatte, oder jemand hatte die Dreistigkeit besessen, in sein Privatgemach einzudringen. Das Turmzimmer war der Ort, wohin Rafik sich zurückzog, wenn die Bürde seiner Pflichten allzu schwer auf ihm lastete. Das spärlich möblierte Zimmer lag im hintersten Winkel des Palastes versteckt – hier konnte er wirklich für sich sein.
Verblüfft, dass jemand tatsächlich die Unverschämtheit besessen hatte, hier aufzutauchen, und neugierig auf die Besitzerin der sehr englisch klingenden Stimme schob Rafik den schweren Vorhang beiseite, der den Balkon von dem dahinterliegenden Raum trennte.
Als der große schwere Vorhang zur Seite geschoben wurde, hob Gabby den Kopf. Sonnenlicht durchflutete den Raum, und ein Balkon mit kunstvoll gearbeiteter Brüstung wurde sichtbar.
Gabby blickte weiter nach oben. Der Mann mit dem goldbraunen Teint war ziemlich groß. Und unglaublich attraktiv.
Er trug ein knielanges Gewand aus dünnem, weißem Stoff – dünn genug, um die dunkle Behaarung seines muskulösen Oberkörpers hindurchschimmern zu lassen, als eine Windbö den Stoff an seinen Körper drückte. Unter dem Gewand trug er Reiterhosen, die in staubbedeckten Stiefeln steckten.
Er hatte keine Kopfbedeckung, und das Sonnenlicht umkränzte heiligenscheinartig sein dunkles Haar, was irgendwie angemessen schien, denn dieser Mann hatte etwas von einem gefallenen Engel.
Die ausgeprägten Wangenknochen, das glatt rasierte, energische Kinn, die Adlernase, der beunruhigend sinnliche Mund sowie die großen, dunklen, silbergesprenkelten und von langen, geschwungenen Wimpern umgebenen Augen ließen Gabby ganz vergessen, wie und warum sie hergekommen war.
Kein Mann hatte das Recht, so gut auszusehen.
Mit hochgezogenen Brauen fragte er: „Gabby …?“
Seine Stimme war tief und sonor, und aus irgendeinem Grund richteten sich plötzlich Gabbys Nackenhaare auf. Wahrscheinlich war es die männliche Überheblichkeit, die in seiner Stimme mitschwang.
Beunruhigt rieb sie sich die kribbelnden Unterarme.
„Nein … ja …“ Gabby spürte, dass sie wie ein Schulmädchen errötete, und schloss den Mund. Sie wollte nicht wie ein vor sich hin stammelnder Dummkopf klingen. Unfähig, sich von seinem durchdringenden Blick zu lösen, sah sie ihm direkt ins Gesicht, und er betrachtete sie von Kopf bis Fuß.
Westlich gekleidete Frauen waren in Zantara nichts Ungewöhnliches, allerdings trugen sie kaum Jeans. Aber es kam sehr selten vor, dass man eine Frau mit blonden Haaren oder blauen Augen sah. Die vor ihm auf dem Boden sitzende Frau hatte beides.
Der erstaunte Blick, mit dem sie ihn aus den azurblauen Augen ansah, deutete darauf hin, dass sie über die Begegnung
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