Julia Sommerliebe Band 22
ließ er sie etwa alle an sich heran …?
Sie fuhr sich durch ihr zerzaustes Haar, um es zu bändigen, und sah die junge Frau, die das Zimmer betreten hatte, nicht sofort. Als sie sie entdeckte, schreckte sie auf. „Oh! Ich hatte Sie nicht gesehen!“
„Entschuldigen Sie bitte, Miss.“ Das Mädchen neigte den verschleierten Kopf. Sie war jung und sehr hübsch und musterte Gabby mit unverhohlener Neugierde. „Der Prinz hat mich gebeten, Sie zu Ihren Zimmern zu bringen.“
Zu meinen Zimmern? Gabby beschloss, nicht weiter nachzufragen, obwohl sie sich den plötzlichen Aufstieg vom ungebetenen Eindringling zum Ehrengast nicht erklären konnte. Als man versucht hatte, sie hinauszuwerfen, hatte sie sich wohler gefühlt. Zumindest war ihr alles vergleichsweise normal vorgekommen; die jetzige Situation hingegen erschien ihr völlig unwirklich.
„Bitte gehen Sie vor“, sagte Gabby und fragte sich, worauf sie sich da eingelassen hatte.
Obwohl sie sich bemühte, eine Unterhaltung mit ihr zu beginnen, war alles, was sie dem rehäugigen Mädchen entlocken konnte, ein nervöses Lachen und erschrockene Blicke. Also verfiel Gabby in Schweigen.
Es war schwer, von den Ausmaßen und dem Glanz des Palastes unbeeindruckt zu bleiben. Auf ihrer wilden Flucht hatte Gabby nicht die Zeit gehabt, den Palast in seiner ganzen Pracht wahrzunehmen.
Das Mädchen führte Gabby durch ein Labyrinth von breiten Gängen und herrlich verzierten Innenhöfen in einen Teil des Palastes, den Gabby bei ihrer Flucht nicht betreten hatte. Hier war die Pracht noch viel üppiger.
Sie bogen um eine Ecke, und Gabby schöpfte verblüfft Atem. Die Wand links von ihr bestand vom Boden bis zur Decke ausschließlich aus buntem Glas. Das Licht, welches hindurchfiel, tanzte an den Wänden und auf dem Fußboden.
Als Gabby stehen blieb, drehte sich das Mädchen mit fragendem Blick nach ihr um. Anscheinend nahm sie die atemberaubende Schönheit dieses Raumes gar nicht wahr.
Gabby wies auf die gläserne Wand und sagte begeistert: „Wie schön!“
Das Mädchen sah sie verblüfft an, schenkte ihr aber ein freundliches Lächeln. Sie zeigte in Richtung einer breiten Treppe, die in das darüberliegende Stockwerk führte. Dabei klirrten die vielen goldenen Armbänder, die sie um das Handgelenk trug.
Sie ging die Korridore so schnell entlang, dass Gabby, deren Beine mittlerweile bleischwer waren, kaum hinterherkam. Schließlich öffnete sie eine Tür und bedeutete Gabby einzutreten.
„Ihre Zimmer, Miss!“
Allein das Wohnzimmer war etwa dreimal so groß wie die kleine Wohnung, die ihre Eltern ihr im Dachgeschoss ihres Hauses eingerichtet hatten.
„Unsere Brieftaube“, so nannten sie Gabby liebevoll. Sie hatte nie den Drang verspürt, weite Reisen zu unternehmen. Direkt nach dem College hatte man ihr eine Stelle in der Grundschule vor Ort angeboten, und sie war sehr froh darüber gewesen. Sie gehörte nicht zu den abenteuerlustigen Menschen, die von weit entfernten Orten träumten. Und nun befand sie sich an einem Ort, der viel exotischer war als alles, was sie sich hätte vorstellen können …
Langsam drehte sie sich einmal um sich selbst. „Unglaublich!“
Ihre Begleiterin lächelte zufrieden und wies in Richtung eines großen Balkons, dessen Türen offen standen.
„Möchten Sie sich den Ausblick ansehen? Die meisten Gäste lieben ihn. Als der Premierminister hier war, hat seine Frau viele Fotos gemacht.“
Gabby lächelte. Der Premierminister! „Nein, danke.“ Von Balkons hatte sie erst einmal genug. Und dieses Mal gäbe es keine starken Arme, die sie auffangen würden.
Eigentlich, dachte sie, bin ich vom Regen in die Traufe gekommen, denn Rafik al Kamil steht nicht für meine, sondern nur für die Sicherheit meines Bruders. Mit gekreuzten Fingern und fest geschlossenen Augen murmelte sie: „Bitte lass Paul frei.“
Das Bild des Bruders vor ihrem inneren Auge brachte sie zum Lächeln. Erst lächelte er auch, dann nicht mehr. Und er war auch nicht mehr blond und auch nicht mehr Paul.
Gabby öffnete die Augen und rieb sich die Unterarme, auf denen sich eine Gänsehaut gebildet hatte. Ihr war kalt, und sie zitterte. Eben noch hatte sie an die Wärme denken müssen, die sie gespürt hatte, als Rafik sie vom Rand des Balkons fortgezogen hatte.
Sie fühlte sich, als stünde sie immer noch am Rand – allerdings am Rande des Wahnsinns. Sie hob eine Hand, um ihr Haar zurückzustreichen, und sah, wie sie zitterte. Erleichtert atmete sie auf. Sie wurde
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