Julia Sommerliebe Band 24
über das zerklüftete Gestein gleiten und atmete tief aus. Wenn sie doch bloß so weise und gelassen sein könnte wie dieser 600 Millionen Jahre alte Felsen. Immerhin schien sein Zauber auch diesmal zu wirken. Bonnie fühlte sich bereits ruhiger. Schließlich waren sie beide nicht hierhergekommen, um zu streiten. Sie würden einen Weg finden, die kommenden Wochen friedlich zusammenzuarbeiten.
Kurz entschlossen drehte sie sich um und ging auf Harry zu. Warum sollten sie nicht einen gemeinsamen Morgenspaziergang unternehmen. Vorsorglich vergrub sie die Hände tief in den Taschen ihrer Jeans, um gar nicht erst in Versuchung zu kommen, ihn zu berühren.
Wortlos gingen sie ein Stück. Plötzlich entdeckten sie weiter vorne ein kleines dunkelhäutiges Kind in einem Trainingsanzug, das sich zielstrebig in Richtung des Bergs bewegte und dabei winzige Fußspuren im feinen Sand hinterließ. Wahrscheinlich gehörte es zu der Familie, die das Café in der Besucherinformation betrieb.
„Leila?“ Es war der Ruf einer Frau, vermutlich der Mutter. Das kleine Mädchen zögerte beim Klang ihrer Stimme, lief dann jedoch weiter einem Vogel hinterher, der sich in einiger Entfernung niedergelassen hatte. Dabei geriet sie in die Nähe eines kleinen Tümpels zwischen den Felsen. Leila beugte sich hinunter und griff mit den Händen nach einem Zweig, der am Rand des Wassers trieb.
Bonnie und Harry, die sie beobachtet hatten, näherten sich im Laufschritt. Beiden stand ein anderes Bild vor Augen. Der Pool auf Bali. Das leblose Mädchen. Nicht noch einmal.
Schon war Bonnie bei dem Kind. Vorsichtig, um das Mädchen nicht zu erschrecken, hielt sie es an der Kapuze seines Anoraks fest. Harry war direkt neben ihr. Ihre Blicke begegneten sich über den Kopf des Mädchens hinweg, und in diesem Moment verstanden sie sich ohne Worte. Sie würden nicht zulassen, dass dem Kind etwas zustieß.
„Leila?“ Die Stimme klang jetzt lauter und ängstlicher. Harry drehte sich suchend nach der Frau um.
„Hübsch.“ Das kleine Mädchen zeigte auf eine Eidechse.
„Ja, sehr hübsch“, bestätigte Bonnie und hielt dem Mädchen ihre Hand hin, die sie ohne Scheu ergriff. „Aber du solltest nicht alleine in die Nähe des Wassers gehen. Komm, wir suchen deine Mummy.“ Sie nahm die Kleine auf den Arm.
„Leila ist hier bei uns“, rief Harry. „Wir sind auf dem Pfad, nicht weit vom Besucherzentrum. Es geht ihr gut.“
Schon bog Leilas Mutter um die Ecke, ihr Gesicht verzerrt vor Sorge. Bonnie drückte ihr das Kind sanft in die Arme.
„Sie war unten beim Tümpel“, erklärte Harry.
Die Mutter sah sie beide mit einem Ausdruck solcher Dankbarkeit an, dass Bonnie die Tränen kamen. Was für Ängste musste sie in den letzten Minuten ausgestanden haben.
„Vielen Dank. Irgendwie hat sie es geschafft, unbemerkt zu verschwinden. In Zukunft werden wir noch besser auf sie aufpassen.“ Fest drückte sie ihre Tochter an sich. „Bitte mach das nie wieder, Süße! Mama hat sich solche Sorgen gemacht.“
„So etwas kann schnell passieren“, sagte Bonnie. „Sie ist der Eidechse dort nachgelaufen.“
„Viel zu nah am Wasser.“ Die Frau schüttelte sich, während sie dem kleinen Reptil nachsah, das sich entfernte. Dann lächelte sie. „Wussten Sie, dass die ngiyari mit ihren Füßen trinken können? Das Wasser läuft durch die Furchen in ihrer Haut bis in den Mund. Es sind schlaue Tiere.“ Sie kitzelte ihre Tochter, die sich vor Vergnügen in den Armen ihrer Mutter wand. „Nochmals vielen Dank an Sie beide.“
„Mein Name ist Bonnie. Ich habe gestern als Krankenschwester und Hebamme an der Klinik in Uluru angefangen. Und das ist Dr. St Clair. Vielleicht sehen wir uns einmal wieder.“
„Ich bin Shay. Wir sehen uns ganz bestimmt. Leila muss nämlich bald geimpft werden.“
Nachdem Mutter und Kind in Richtung Besucherzentrum verschwunden waren, gingen Harry und Bonnie noch eine Weile weiter. Die Ruhe, die Bonnie vorher beim Anblick des Felsens empfunden hatte, wollte sich jedoch nicht mehr einstellen. Zu frisch war ihre Erinnerung an den Vorfall auf Bali, der beinahe in einer Tragödie geendet hätte. Harry hatte sie belogen und fast im Stich gelassen – das konnte sie nicht vergessen.
Es hatte keinen Sinn. Wortlos drehte sie sich um und ging alleine zu ihrem Auto.
In der Klinik gab es nicht viel zu tun. Es erwarteten sie lediglich einige Sonnenbrände und ein gebrochener Kiefer. Nachmittags standen tatsächlich Shay und Leila im
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