Julia-Weihnachten Band 23
war sie zu der Erkenntnis gekommen, dass sie nicht länger in der Kleinstadt bleiben konnte, in der ihr Leben solch eine dramatische Wende genommen hatte. Sie musste dringend etwas ändern.
Dans Erbe hatte sie wie ein Sechser im Lotto überrascht und war ihre Rettung gewesen. So hatte sie ein Haus und genügend Geld, um eine Weile davon zu leben. Der Lebensretter. Ein neuer Anfang. Ein neues Leben in England.
Die Scheidung hatte Clemmie finanziell stärker angeschlagen, als sie es vorher schon gewesen war. Verzweifelt hatte sie alles Mögliche versucht, um über die Runden zu kommen. Doch ohne einen amerikanischen Ehemann war sie dort plötzlich wie eine Ausländerin angesehen worden. Noch dazu eine Ausländerin mit funkelnden dunklen Augen und einem kurvenreichen Körper – eben die Art von Frau, die überall in der Welt von nicht allzu glücklich verheirateten Frauen gefürchtet wurde.
Deshalb hatte sie ihre Siebensachen gepackt, ihre beiden Kinder genommen und war nach Ashfield zurückgekehrt. Zurück in jene Stadt, in der sie vor dem Studium am College zwei ziemlich wechselhafte Jahre verbracht hatte. Und alles erinnerte sie an ihre unsinnige Schwärmerei für Alec Cutler. Wie naiv sie damals doch gewesen war!
In ihrem tiefsten Innern hatte sie sich gefragt, ob sie in Ashfield tatsächlich neu anfangen konnte. Doch solche Zweifel konnte sie sich nicht leisten: Frauen in ihrer Lage hatten keine große Auswahl, wenn es darum ging, wo sie leben sollten. Sie war froh und dankbar für Dans Erbe und fühlte sich seltsam nach Ashfield hingezogen. Trotz ihrer jugendlichen Fehler war es der einzige Ort, der ihr ein Gefühl von Heimat vermittelte. Angesichts ihrer unsicheren Zukunft gab ihr diese Empfindung den Halt, den sie jetzt brauchte.
Clemmie setzte den Wasserkessel auf und machte Tee. Anschließend schnitt sie einige Stücke vom dunklen würzigen Ingwerkuchen ab und legte sie auf einen Teller. Lautes Gepolter auf der Treppe kündete die Ankunft ihrer beiden Töchter an. Rasch trug sie das Tablett ins Wohnzimmer und lächelte den beiden zufrieden zu.
Justine und Louella waren munter und aufgekratzt. Es war ihnen nicht anzumerken, dass sie erst vor ein paar Stunden aus einem Transatlantikflieger gestiegen waren. Clemmie war stolz. Die beiden waren schlicht und einfach die Lichtpunkte ihres Lebens.
Ganz gleich, welche Ziele sie sonst erreicht hatte – oder eben nicht: Diese Aufgabe hatte sie gemeistert. Noch dazu fast allein. Sie hatte zwei hübsche, intelligente, charmante kleine Mädchen auf die Welt gebracht. Und jetzt musste sie sie großziehen, damit sie zu glücklichen Menschen heranwuchsen. Alles andere spielte eine untergeordnete Rolle.
„Mummy, ich habe mir ein Zimmer ausgesucht!“, rief Justine. „Es ist total cool!“
„Warum darf sie immer zuerst wählen?“, klagte Louella und verzog das Gesicht.
„Weil ich zehn bin und du erst acht“, erklärte Justine triumphierend.
„Das ist ungerecht!“
Clemmie wollte ihre jüngere Tochter darauf hinweisen, dass das Leben häufig ungerecht war. Doch für solche unangenehmen Wahrheiten war die Kleine noch zu jung, und so ließ Clemmie es bleiben. Stattdessen fragte sie ruhig: „Gefällt dir dein Zimmer nicht, Louella? Es ist dasselbe, in dem ich als Kind gewohnt habe. Nicht der größte Raum, aber meiner Ansicht nach der mit der besten Aussicht.“
„Es ist ganz okay“, gab Louella zu und nickte so heftig, dass ihre hüftlangen braunen Zöpfe auf und ab wippten. „Ich kann über die Mauer direkt in einen großen Garten hinter unserem gucken. Da gibt es einen Swimmingpool. Und ein Mädchen war da und schaukelte.“
„Tatsächlich?“, fragte Clemmie geistesabwesend und goss den Tee ein.
„Ja, ich habe ihr zugewinkt, und sie hat zurückgewinkt.“
„Das war sehr nett, mein Schatz.“
„Sind das denn unsere nächsten Nachbarn?“
„Ja.“ Clemmie reichte ihrer Tochter ein großes Stück Kuchen und beobachtete, wie Louella davon abbiss. „Es ist gut, dass dort endlich wieder jemand wohnt. Das Haus hat jahrelang leer gestanden.“ Kleine Fetzen eines lange zurückliegenden Gesprächs fielen ihr ein, und Alec Cutlers schönes achtzehnjähriges Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf.
Energisch schüttelte sie den Kopf, um es zu vertreiben. Weshalb setzten die alten Erinnerungen ihr immer noch derart zu? Schließlich gab es kaum etwas Bedauernswerteres als eine neunundzwanzigjährige Frau, die sich nach einem Mann verzehrte, der mit
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