Julia-Weihnachten Band 23
jedem jungen Mann, der sie aufforderte.
Clemmie war viel zu ausgelassen und erregt, um etwas zu essen. Als ihr jemand ein Glas Fruchtpunsch reichte, stürzte sie es hinunter. Angestrengt versuchte sie, nicht zu Alison Fleming hinüberzusehen, die zurückhaltend in Weiß gekleidet war.
Alec schien der einzige richtige Mann im Saal zu sein. Seine Größe, seine breiten Schultern, sein ganzes Verhalten verliehen ihm eine Ausstrahlung, neben der Clemmie alle anderen wie Pappfiguren vorkamen.
Auf dem Rückweg von den Toiletten lief sie ein bisschen unsicher den Korridor entlang, als sie plötzlich Alec entdeckte.
Reglos stand er mit dem Rücken zu ihr am Fenster eines leeren, unbeleuchteten Klassenzimmers. Seines alten Klassenzimmers …
Sehnsüchtig holte Clemmie tief Luft. Sie sollte schweigend weitergehen. Alec interessierte sich nicht für sie. Er hatte eine Freundin.
Aber der Wein und der Punsch hatten ihre Zunge gelockert. Und dies war vermutlich das letzte Mal, dass sie Alec begegnen würde.
„Hi“, sagte sie beherzt und blieb auf dem hell erleuchteten Korridor stehen.
Langsam drehte Alec sich um. Dabei ließ er seinen Blick in einer Weise über ihren Körper gleiten, die sie nicht recht deuten konnte. Falls es ihn überraschte, sie zu sehen, ließ er es sich nicht anmerken. Allerdings stand ihm selten ins Gesicht geschrieben, was in ihm vorging. Und in diesem Moment konnte Clemmie sich sowieso nicht darauf konzentrieren, über seine Miene nachzudenken.
„Hi“, erwiderte er kühl.
Clemmie schluckte, ging zu ihm und trat neben ihn ans Fenster, durch das sie die Tennisplätze und das Fußballfeld dahinter erkennen konnte. Wie wird es hier im nächsten Schuljahr sein?, überlegte sie. Ohne Alec Cutler sehen zu können und der Fantasie freien Lauf zu lassen … Nein, daran wollte sie jetzt lieber nicht denken.
„Was beobachtest du da?“, fragte sie und spähte ebenfalls hinaus, als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
Leise lachend schüttelte er den Kopf. „Gar nichts.“
Clemmie wurde mutiger. „O doch, du hast etwas beobachtet“, widersprach sie fröhlich. „Ich habe es genau gesehen.“ In Alecs Gegenwart war sie beinahe so aufgekratzt wie ein junger Hund.
Mit leichtem Widerwillen lächelte er. „Also gut“, gab er zu. „Ich habe das alte Haus dort drüben betrachtet. Siehst du es?“
Sie folgte seinem Blick. Doch sie wusste bereits, wovon er sprach: von dem baufälligen Gebäude hoch über der Stadt. Von ihrem Schlafzimmerfenster aus konnte sie es sehen. Der Rasen musste dringend gemäht werden, und das Unkraut wucherte in den Blumenbeeten. Im Herbst würden die Äpfel und Birnen von den Bäumen fallen und unbeachtet auf dem Boden verrotten. Ein trauriges Haus, hatte sie schon oft gedacht. Ein vernachlässigtes Haus.
„Du meinst das alte graue Haus? Spukt es darin nicht?“
Alec schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht an solche Dinge. Es wirkt bloß so unheimlich, weil dort seit Jahren kein Mensch mehr wohnt.“
„Mich würde interessieren, weshalb nicht“, sagte sie.
Nachdenklich schaute Alec sie an. Es erschien ihm unwahrscheinlich leicht, sich mit Clemmie zu unterhalten. Andererseits spürte er dabei eine unbekannte Gefahr, die in der Luft lag. „Weil es sehr groß ist. Und total heruntergekommen. Man braucht eine Menge Geld, um es zu renovieren und anschließend instand zu halten. Und Leute mit so viel Geld wollen normalerweise nicht in einer Kleinstadt wie Ashfield leben.“
„Aber du würdest gern hier leben?“, fragte sie einfühlsam.
Er zuckte mit den Schultern. „Möglicherweise.“
Einen Moment trat eine tiefe Stille ein, in der Clemmie ihr eigenes Herz in der Brust schlagen hörte. Verstohlen betrachtete sie Alecs Gesicht. „Bist du traurig?“, erkundigte sie sich leise.
Misstrauisch kniff er die Augen zusammen. Anscheinend war er es nicht gewohnt, nach seinen Gefühlen befragt zu werden. „Traurig?“
„Weil du gehst.“ Sie merkte, dass er ihr nicht mehr in die Augen blickte, sondern eindringlich ihr hautenges schwarzes Seidenkleid musterte. Ein Muskel zuckte in seiner rechten Wange.
Nach einer kurzen Pause erklärte er: „Ein bisschen. Wenn man ein Kapitel seines Lebens abschließt, wird ja jeder etwas sentimental.“ Er lachte leise und wandte sich abrupt ab. Aber nicht für lange. Kurz darauf sah er sie wieder intensiv an, und Clemmie fühlte sich wie magisch angezogen von dem kühlen, beinahe etwas spöttischen Ausdruck in seinen
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