Julia Winterträume Band 8 (German Edition)
dass er es besaß. Es war ihm schon immer leichtgefallen, Menschen einzuschätzen, sie objektiv zu sehen. Auch Sasha? Eigentlich hatte sie eben recht einleuchtend begründet, warum sie die Jungen ins Internat gegeben hatte. Und die Empfindungen, gegen die sie dabei angekämpft hatte, hätte niemand spielen können.
Fast fühlbar änderte sich in diesem Moment seine Einstellung zu ihr. Hatte er die Tatsachen bewusst aus einem falschen Blickwinkel sehen wollen, weil es so bequemer für ihn war? Gabriel drückte das Gewissen. Jetzt galt es, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein. Zumindest eins musste er inzwischen zugeben: Sasha war eine gute Mutter.
Ich muss überhaupt nichts zugeben, ermahnte er sich gleich darauf. Wie immer, wenn er an Sasha dachte, fühlte er einen schmerzlichen Stich in der Brust. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, dass der Professor zu Sasha trat und etwas zu ihr sagte. Gabriel rückte näher an sie heran.
Unwillkürlich verkrampfte sie sich. Was erwartete er jetzt von ihr? Dass sie sich weigerte, ihre Söhne von Professor Fennini unterrichten zu lassen? Im Gegensatz zu Gabriel war sie flexibel und beharrte nicht halsstarrig auf ihrem Standpunkt. Wie der Professor richtig bemerkt hatte, waren die Jungen in einem Alter, in dem sie wie Schwämme alles aufsogen und Neues begierig lernten, wenn es in der richtigen Weise an sie herangetragen wurde. Bei Professor Fennini würde das ganz sicher der Fall sein. Und sie würde da sein, um ein Auge auf ihre Söhne zu halten und notfalls einzugreifen.
„Besonders beeindruckt haben mich die Lebensbücher der Jungen“, hörte sie den Professor sagen. „Diese Methode setzt man vielfach ein, um gestörten Kindern zu helfen. Auf den Gedanken, Tagebuch über eine glückliche Kindheit führen zu lassen, bin ich noch nicht gekommen.“
Sasha zuckte nur die Schultern. Sie dachte nicht daran, von ihrer eigenen Kindheit zu erzählen, auch nicht, dass sie durch ihre spätere Therapie auf die Idee mit den Lebensbüchern gekommen war.
„Ursprünglich wollte ich die Jungen anspornen, Tagebuch zu führen“, berichtete sie. „Da war es zu den Lebensbüchern nur noch ein kleiner Schritt. Sie machen den Kindern mehr Spaß, weil nicht nur sie hineinschreiben. Wir haben Seiten festgelegt, die nur für sie allein bestimmt sind, und welche, auf denen wir gemeinsam festhalten, was wir tun.“
Schweigend hatte Gabriel zugehört. Professor Fenninis Lob für Sashas Handlungsweise bestätigte, was er selbst bereits erkannt hatte. Warum fiel es ihm dann so schwer, seine Meinung von Sasha als schlechter Mutter über Bord zu werfen? Weil er mit den Zwillingen zusammenleben wollte? Und mit Sasha – einer Frau, die ihn verlassen hatte? Eine tief in ihm schlummernde Angst erwachte. Was war, wenn nicht Sasha, sondern er schuld daran war, dass sie ihn verlassen hatte?
Nun ließen die Zweifel Gabriel nicht mehr los. Sie beschäftigten ihn noch lange, nachdem der Professor sich verabschiedet und begeistert erklärt hatte, er freue sich schon darauf, in der kommenden Woche anzufangen, mit den Zwillingen zu arbeiten.
Immer wieder verglich Gabriel im Geist die Kindheit der Zwillinge mit seiner eigenen und beneidete sie um die Liebe, die sie im Gegensatz zu ihm erfuhren. Erinnerungen stiegen vor ihm auf: Er sah sich als Junge die Arme nach seiner Pflegemutter ausstrecken, um sie erschrocken zurückzuziehen, als sie mit unfreundlichen Worten und Schlägen reagierte … hörte seinen Großvater ihm verbittert vorhalten, wie sehr er bedaure, dass er sein einziger Erbe sei …
„Cousin Gabriel!“ Sams bittende Stimme riss Gabriel aus seinen Gedanken. „Nico und ich dachten, wenn Mum dich fragt, was wir uns nächste Woche zum Geburtstag wünschen, könntest du ihr sagen, dass wir richtige Erwachsenenfahrräder brauchen.“
Es dauerte einige Sekunden, bis Gabriel begriff, auf was Sam hinauswollte. „Ihr habt nächste Woche Geburtstag?“ Blitzschnell rechnete er nach. Nächste Woche. Das bedeutete, dass Sasha die Zwillinge empfangen hatte, als sie noch mit ihm zusammenlebte. Also hatte sie ihn mit Carlo betrogen, und das zu einer Zeit, während sie auch mit ihm, Gabriel, geschlafen hatte. Großer Zorn stieg in ihm auf, er war nahe daran, die Fassung zu verlieren.
Begeistert nickte Sam, der nicht ahnte, was er mit seiner Bemerkung angerichtet hatte. „Dann werden wir zehn“, erklärte er Gabriel mit stolzgeschwellter Brust.
„Mum sagt, wir bekommen erst mit elf richtige
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