Julia
und ich - von Giuliettas Schwester Giannozza und ihrem Ehemann Mariotto da Gambacorta ab. Was Giulietta betraf, gab es keinen Hinweis darauf, dass sie jemals geheiratet hatte, geschweige denn, dass sie Kinder bekommen hatte.
Von schlimmen Vorahnungen erfüllt, legte ich das Dokument schließlich beiseite und wandte mich wieder den anderen Texten zu. Da ich nun wusste, dass letztendlich Giannozza Tolomei meine wirkliche Vorfahrin war, sah ich Giuliettas bruchstückhafte Briefe an ihre Schwester, in denen sie sich hin und wieder auch über Giannozzas ruhiges Landleben fernab von Siena äußerte, mit ganz anderen Augen.
»Du hast Glück, liebste Schwester«, schrieb sie an einer Stelle, »dass euer Haus so groß ist und dein Gatte so schlecht auf den Beinen ...« und etwas später hieß es: »Ach, wie gerne würde ich mich so wie du nach draußen stehlen und auf einem Bett aus wildem Thymian eine heimliche Stunde des Friedens genießen ...«
Irgendwann fielen mir die Augen zu, und ich schlief ein paar Stunden tief und fest, bis mich ein lautes Geräusch hochschrecken ließ. Draußen war es noch dunkel.
Da ich zu schlaftrunken war, um die Geräusche der wachen Welt richtig einzuordnen, dauerte es einen Moment, bis ich begriff, dass der Krach von einem Motorrad verursacht wurde, dessen Fahrer auf der Straße unter meinem Balkon immer wieder den Motor aufheulen ließ.
Eine Weile lag ich nur da und ärgerte mich über die rücksichtslose Jugend von Siena. Dabei hätte ich eigentlich viel schneller begreifen müssen, dass das kein normaler Jugendtreff war, sondern ein einzelner Biker, der versuchte, jemanden auf sich aufmerksam zu machen. Und dieser Jemand - so befürchtete ich allmählich - war ich.
Rasch stand ich auf und schlich zum Balkon hinüber. Durch die Ritzen der Fensterläden konnte ich von der Straße unten nicht viel erkennen, doch während ich so dastand und mir den Hals verrenkte, hörte ich rund um mich herum immer mehr Geräusche. Wie es schien, standen die anderen Hotelgäste auch alle auf und öffneten ihre Fensterläden, um zu sehen, was draußen vorging.
Durch diesen kollektiven Aufruhr ermutigt, öffnete ich meine Balkontür, um hinauszuspähen. Endlich sah ich ihn. Es war tatsächlich mein Verfolger auf dem Motorrad, der dort unten im Licht der Straßenlampe eine perfekte Acht nach der anderen fuhr. Jedenfalls zweifelte ich keine Sekunde daran, dass es derselbe war, der mich bereits zweimal verfolgt hatte - einmal, um mich vor Bruno Carrera zu retten, und ein weiteres Mal, um mich durch die Glastür der Espressobar am Adlerbrunnen zu betrachten. Wieder war er ganz schwarz gekleidet und hatte das Visier geschlossen, und auch das Motorrad war das gleiche. Zumindest war mir noch nie ein anderes untergekommen, das genauso aussah.
Nach einer Weile wandte er den Kopf und entdeckte mich in der Balkontür. Schlagartig schwächte sich der Motorenlärm zu einem Schnurren ab, das von den wütenden Schreien aus den anderen Fenstern und Balkontüren des Hotels Chiusarelli fast übertönt wurde. Was den Fahrer aber nicht im Geringsten störte. Er griff in seine Tasche, zog einen runden Gegenstand heraus, schwang den Arm zurück und warf, was immer es auch sein mochte, zielgenau auf meinen Balkon.
Mit einem seltsamen, surrenden Geräusch landete das Ding direkt vor meinen Füßen und sprang sogar noch einmal hoch, ehe es endlich zum Stillstand kam. Ohne einen weiteren Versuch der Kontaktaufnahme gab mein ledergewandeter Freund auf seiner Ducati so heftig Gas, dass die Maschine ihn fast abgeworfen hätte. Sekunden später war er um eine Ecke verschwunden, und wären da nicht die anderen Hotelgäste gewesen - von denen manche weitermurrten, andere lachten -, hätte sofort wieder nächtliche Stille geherrscht.
Ich starrte einen Moment lang auf das Wurfgeschoss hinunter, ehe ich schließlich wagte, es aufzuheben und mit in mein Zimmer zu nehmen. Nachdem ich die Balkontür fest hinter mir geschlossen und dann das Licht angeschaltet hatte, entpuppte sich das Ding als ein Tennisball, um den ein festes Blatt Papier gewickelt und mit Gummibändern fixiert worden war. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem Blatt um eine handgeschriebene Nachricht. Die Schrift wirkte kräftig und selbstbewusst, war allerdings mit dunkelroter Tinte zu Papier gebracht worden - einer Farbe, die für gewöhnlich nur Verliebte und Selbstmörder verwendeten. Die Nachricht lautete folgendermaßen :
Giulietta ,
Verzeih
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