Julia
nennen.«
»Die habe ich in der Tat«, antwortete ich. »Und ich wünschte, sie wäre heute ebenfalls hier. Sie ...« - während ich den Blick erneut durch die von Kerzen erhellte Halle und über all die bizarren Leute schweifen ließ, musste ich mir ein Lächeln verbeißen - »wäre bestimmt begeistert.«
Das Gesicht der alten Frau verzog sich zu einem faltigen Lächeln, als sie hörte, dass es zwei von uns gab. Ich musste ihr versprechen, bei meinem nächsten Besuch meine Schwester mitzubringen.
»Aber wenn diese Namen eine Familientradition darstellen«, sagte ich, »dann muss es außer mir doch noch Hunderte - nein, Tausende - von Giulietta Tolomeis geben!«
»No-no-no!«, rief Eva Maria. »Vergessen Sie nicht, dass wir hier von einer Tradition in der weiblichen Linie sprechen und die Frauen ja für gewöhnlich den Namen ihres Mannes annehmen, wenn sie heiraten. Laut Monna Teresa wurde in all den Jahren kein einziges Zwillingspärchen auf die Namen Giulietta und Giannozza Tolomei getauft. Aber Ihre Mutter war sehr starrsinnig ...« Aus Eva Marias letztem Satz sprach widerwillige Bewunderung, und sie hielt für einen Moment kopfschüttelnd inne, ehe sie fortfuhr: »Sie wollte unbedingt den Namen, deswegen heiratete sie Professor Tolomei. Und siehe da, sie bekam Zwillinge!« Eva Maria warf einen fragenden Blick zu Monna Teresa hinüber, als brauchte sie deren Bestätigung. »Soweit wir wissen, sind Sie die einzige Giulietta Tolomei auf der Welt. Das verleiht Ihnen eine ganz besondere Stellung.«
Sie sahen mich alle erwartungsvoll an, und ich bemühte mich nach Kräften, dankbar und interessiert zu wirken. Natürlich war ich hocherfreut, mehr über meine Familie zu erfahren und entfernte Verwandte kennenzulernen, aber das Timing hätte wirklich besser sein können. Es gibt Abende, an denen man sich nichts Schöneres vorstellen kann, als mit alten, Spitzenkrausen tragenden Damen zu plaudern, und Abende, an denen man lieber etwas anderes täte. An diesem ganz besonderen Abend sehnte ich mich ehrlich gesagt danach, mit Alessandro allein zu sein. Wo blieb er bloß? Auch wenn ich mich schon viele nächtliche Stunden bereitwillig in die tragischen Ereignisse des Jahres 1340 vertieft hatte, wollte ich in dieser speziellen Nacht lieber etwas anderes erforschen als meine Familiengeschichte.
Doch nun war Monna Chiara an der Reihe, mich am Arm zu nehmen und mir in eindringlichem Ton von der Vergangenheit zu erzählen. Dabei klang ihre Stimme dünn und zart wie Seidenpapier, und ich beugte mich so nahe zu ihr hinunter, wie die Pfauenfeder es zuließ.
»Monna Chiara lädt Sie ein, sie zu besuchen«, übersetzte Eva Maria, »damit Sie sich ihr Archiv mit den Familiendokumenten ansehen können. Ihre Vorfahrin, Monna Mina, war die erste Frau, die versucht hat, die Geschichte von Giulietta, Romeo und Bruder Lorenzo zu entwirren. Sie hat auch die meisten alten Papiere ausfindig gemacht. In einem geheimen Archiv in der alten Folterkammer des Palazzo Salimbeni entdeckte sie die Unterlagen zum Prozess gegen Bruder Lorenzo, einschließlich seines Geständnisses, und sie fand auch Giuliettas Briefe an Giannozza, die an verschiedenen Orten verborgen lagen. Einige waren im Palazzo Tolomei unter einem Holzboden, andere im Palazzo Salimbeni versteckt, und einer - der allerletzte - sogar auf Rocca di Tentennano.«
»Es wäre mir eine große Freude, wenn ich diese Briefe sehen dürfte«, antwortete ich und meinte es auch so. »Ich kenne ein paar Fragmente, aber ...«
»Nachdem Monna Mina sie gefunden hatte«, unterbrach mich Eva Maria, angetrieben von Monna Chiara, deren Augen im Kerzenlicht leuchteten, gleichzeitig jedoch seltsam in die Ferne gerichtet waren, »unternahm sie eine weite Reise, um Giuliettas Schwester Giannozza zu besuchen und ihr die Briefe endlich auszuhändigen. Das dürfte um das Jahr 1372 gewesen sein, als Giannozza bereits Großmutter war - noch dazu eine sehr glückliche - und mit ihrem zweiten Mann Mariotto verheiratet. Trotzdem können Sie sich vorstellen, was für ein Schock es für Giannozza war, zu lesen, was ihre Schwester ihr so viele Jahre zuvor geschrieben hatte, ehe sie sich das Leben nahm. Die beiden Frauen - Mina und Giannozza - sprachen miteinander über all die Ereignisse der Vergangenheit, und schworen anschließend, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Geschichte für zukünftige Generationen am Leben zu erhalten.«
Lächelnd machte Eva Maria eine kurze Pause, in der sie den zwei alten
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