Julia
Argwohn, sondern voller Ehrfurcht. Als er genug gesehen hatte, beugte er sich vor und küsste mich auf die Stirn. Seine Lippen fühlten sich an wie Pergament.
»Bruder Lorenzo«, erklärte Eva Maria, »leitet die Lorenzo-Bruderschaft. Zum Gedächtnis an den Freund Ihrer Vorfahrin nimmt der Mönch, der dieser Bruderschaft vorsteht, jeweils den Namen Lorenzo an. Es ist eine große Ehre, dass er und seine Mitbrüder sich bereiterklärt haben, heute hier zu sein und Ihnen etwas zu übergeben, das Ihnen gehört. Seit vielen Hundert Jahren erwarten die Männer der Lorenzo-Bruderschaft diesen Moment mit Freude!«
Als Eva Maria schwieg, gab Bruder Lorenzo den anderen Mönchen ein Zeichen, und sie erhoben sich wortlos. Einer von ihnen beugte sich vor und nahm ein kleines Kästchen vom mittleren Teil der langen Tafel. Ohne große Zeremonie ging es von Hand zu Hand, bis es schließlich Bruder Lorenzo erreichte.
Sobald ich das Kästchen als die kleine Schachtel wiedererkannte, die ich am Nachmittag in Alessandros Kofferraum entdeckt hatte, wich ich einen Schritt zurück, doch Eva Maria, die meine reflexartige Bewegung spürte, sorgte dafür, dass ich blieb, wo ich war, indem sie die Finger in meine Schulter grub. Während Bruder Lorenzo nun eine längere Erklärung auf Italienisch abgab, übersetzte sie atemlos, aber mit großem Nachdruck jedes seiner Worte. »Dieser Schatz wird seit Jahrhunderten von der Jungfrau Maria bewacht, und nur Sie dürfen ihn tragen. Viele Jahre lang war er zusammen mit dem ursprünglichen Bruder Lorenzo unter einem Kellerraum des Palazzo Salimbeni in Siena vergraben, doch als der Leichnam schließlich nach Viterbo gebracht wurde, um dort in heiliger Erde bestattet zu werden, entdeckten die Mönche den Schatz bei den sterblichen Überresten. Sie glauben, dass Bruder Lorenzo ihn irgendwo an seinem Körper versteckt hatte, um zu verhindern, dass er in die falschen Hände fiel. Seitdem war er viele, viele Jahr verschwunden, doch nun ist er endlich hier und kann neu gesegnet werden.«
Bruder Lorenzo öffnete das Kästchen. Zum Vorschein kam Romeos Siegelring, gebettet auf königsblauen Samt. Sogar ich beugte mich wie alle anderen vor, um einen besseren Blick zu erhaschen.
»Diu!«, flüsterte Eva Maria ehrfürchtig. »Giuliettas Ehering. Es ist ein Wunder, dass Bruder Lorenzo ihn retten konnte.«
Ich warf einen verstohlenen Blick zu Alessandro hinüber, weil ich damit rechnete, zumindest einen Anflug von schlechtem Gewissen auf seinem Gesicht zu entdecken, nachdem er den ganzen Tag mit dem verdammten Ding im Kofferraum durch die Gegend gefahren war und mir nur einen Teil der Geschichte erzählt hatte. Doch seine Miene wirkte vollkommen gelassen. Entweder er empfand tatsächlich keinerlei Schuldgefühle, oder er verstand es erschreckend gut, sie zu verbergen. In der Zwischenzeit erteilte Bruder Lorenzo dem Ring einen ausgiebigen Segen und überreichte ihn dann mit zitternden Fingern nicht mir, sondern Alessandro. »Romeo Marescotti ... per favore.«
Alessandro zögerte einen Moment, ehe er den Ring entgegennahm. Ich sah ihn einen Blick mit Eva Maria wechseln - einen finsteren Blick, der nicht die Spur eines Lächelns barg und zwischen den beiden wohl eine Art symbolischen Wendepunkt markierte, ehe er zu mir weiterglitt und sich um mein Herz legte wie der Griff eines Schlächters vor dem tödlichen Schlag.
Genau in dem Moment wurde ich - was wahrscheinlich nicht weiter verwunderlich war - erneut von einem so heftigen Schwindelgefühl erfasst, dass mir alles vor den Augen verschwamm. Ich schwankte ein wenig, weil sich der Raum um mich herum zu drehen begann. Das wurde zwar gleich wieder besser, hörte aber nicht völlig auf, so dass ich mich auf Alessandros Arm stützen musste. In der Hoffnung, der Schwindelanfall möge rasch vorübergehen, blinzelte ich ein paarmal heftig. Erstaunlicherweise ließen sich weder Alessandro noch Eva Maria durch mein plötzliches Unwohlsein aus dem Konzept bringen.
»Im Mittelalter«, übersetzte Alessandro die Worte von Bruder Lorenzo, »war das ganz einfach. Der Mann sagte: Ich gebe dir diesen Ring, und damit war die Ehe besiegelt.« Er nahm meine Hand und ließ den Ring an meinen Finger gleiten. »Keine Diamanten. Nur den Adler.«
Die beiden hatten Glück, dass ich zu benommen war, um mich darüber auszulassen, was ich davon hielt, dass mir gerade gegen meinen Willen ein teuflischer Ring aus dem Sarg eines Toten an den Finger gesteckt wurde. Allem Anschein nach
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