Julia
Damen je einen Arm um die Schulter legte und sie sanft, aber voller Wertschätzung drückte. Beide kicherten über diese Geste wie junge Mädchen.
»Deswegen«, fuhr Eva Maria mit einem ernsten Blick in meine Richtung fort, »sind wir heute Abend hier zusammengekommen: um uns daran zu erinnern, was passiert ist, und dafür zu sorgen, dass es nie wieder passieren wird. Monna Mina war die Erste, die das vor mehr als sechshundert Jahren getan hat. Zeit ihres Lebens ging sie am Jahrestag ihrer Hochzeitsnacht in den Keller des Palazzo Salimbeni - hinunter in jenen schrecklichen Raum - und zündete Kerzen für Bruder Lorenzo an. Als ihre Töchter alt genug waren, nahm sie diese ebenfalls mit hinunter, damit sie sich mit seinem Geist anfreunden konnten. Über viele Generationen hinweg wurde die Tradition von den Frauen beider Familien lebendig gehalten. Inzwischen aber sind jene Ereignisse für die meisten Menschen in sehr weite Ferne gerückt. Glauben Sie mir ...« - sie zwinkerte mir zu und war für einen Moment wieder die Eva Maria, die ich kannte -, »große moderne Banken schätzen keine nächtlichen Prozessionen, bei denen alte Frauen in blauen Nachthemden mit Kerzen durch ihre Gewölbe geistern. Fragen Sie Sandro. Aus diesem Grund halten wir unsere Treffen heutzutage hier ab, im Castello Salimbeni, und zünden unsere Kerzen im Erdgeschoss an, statt unten im Keller. Schließlich sind wir zivilisierte Menschen und auch nicht mehr ganz so jung. Deswegen, carissima, ist es uns eine große Freude, Sie heute Abend, am Jahrestag von Minas Hochzeitsnacht, hier bei uns zu haben und in unserem Kreis begrüßen zu dürfen.«
Dass etwas nicht stimmte, merkte ich zuerst am Büfett. Während ich versuchte, einen Schlegel von einer gebratenen Ente zu lösen, die ausgesprochen elegant mitten auf einer Silberplatte lag, spülte plötzlich eine warme Welle des Schwindels über das Ufer meines Bewusstseins und ließ mich sanft schwanken. Es war nichts Dramatisches, aber der Servierlöffel fiel mir einfach aus der Hand, als wären meine Muskeln schlagartig erschlafft.
Nach ein paar tiefen Atemzügen gelang es mir, den Kopf zu heben und mich wieder auf meine Umwelt zu konzentrieren. Eva Marias spektakuläres Büfett war auf der Terrasse der großen Eingangshalle errichtet, über der gerade der Mond aufging. Hier draußen gab es statt Kerzen Fackeln, die in Halbkreisen aus Feuer der Dunkelheit trotzten. Hinter mir war das Haus durch Dutzende offener Fenster und außen angebrachter Scheinwerfer hell erleuchtet. Wie ein großes Leuchtfeuer gebot es der Nacht hartnäckig Einhalt. Auf mich wirkte das Ganze wie eine letzte, kultivierte Bastion das alten Salimbeni-Stolzes, und wenn ich mich nicht sehr täuschte, verloren die Gesetze der Welt am Tor jede Gültigkeit.
Ich griff ein weiteres Mal nach dem Servierlöffel und versuchte dieses plötzliche Gefühl von Benommenheit abzuschütteln. Ich hatte nur ein einziges Glas Wein getrunken. Eva Maria hatte es mir persönlich eingeschenkt, weil sie wissen wollte, was ich von ihrem neuen Sangiovese hielt, aber ich hatte heimlich die Hälfte davon in eine Topfpflanze gekippt. Schließlich wollte ich sie nicht in ihrer Ehre als Winzerin kränken, indem ich mein Glas nicht austrank. Doch auch wenn ich von dem bisschen Wein nicht betrunken sein konnte, war es in Anbetracht all der aufregenden Ereignisse des Tages kein Wunder, dass ich mich inzwischen ein wenig daneben fühlte.
Erst jetzt entdeckte ich Alessandro. Er war aus dem dunklen Garten aufgetaucht und stand zwischen den Fackeln, von wo aus er direkt zu mir herüberstarrte. Obwohl ich erleichtert und aufgeregt war, weil ich ihn endlich wieder in meiner Nähe hatte, wusste ich bei seinem Anblick sofort, dass etwas nicht stimmte. Aus seiner Miene sprach nicht so sehr Wut, sondern eher Kummer oder sogar Trauer, als wäre er gekommen, um an meine Tür zu klopfen und mich darüber zu informieren, dass sich ein schrecklicher Unfall ereignet hatte.
Voller schlimmer Vorahnungen stellte ich meinen Teller weg und ging auf ihn zu. »Schon die Minut'«, begann ich lächelnd, »enthält der Tage viel. Ach! so zu rechnen hin ich hoch in Jahren, eh meinen Romeo ich wiederseh.« Ich blieb direkt vor ihm stehen und versuchte seine Gedanken zu lesen, doch mittlerweile wirkte sein Gesicht - genau wie bei unserer allerersten Begegnung - völlig emotionslos.
»Shakespeare, Shakespeare«, sagte er, nicht gerade beglückt über meine poetischen Worte, »warum
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