Julia
einfach in ihrer Nähe und wartete auf eine passende Gelegenheit. Ein paar Tage später sah er eine Frau im Garten herumwandern und Rosen schneiden. In der Annahme, dass es sich um Tante Rose handelte, trat er auf sie zu und fragte, ob sie bei der Gartenarbeit vielleicht Hilfe gebrauchen könne. So fing es an. Sechs Monate später zog Umberto, der sich bereiterklärt hatte, für wenig mehr als Kost und Logis zu arbeiten, als Vollzeitkraft ein.
»Ich glaube es einfach nicht!«, platzte ich heraus. »Hat sie sich denn nie gefragt, warum du ... rein zufällig in der Gegend warst?«
»Sie war einsam«, murmelte Umberto, nicht gerade stolz auf sich. »Zu jung für eine Witwe, aber zu alt für eine Mutter. Sie wollte mir einfach glauben.«
»Und Eva Maria? Wusste sie, wo du warst?«
»Ich blieb mit ihr in Kontakt, habe am Telefon aber nie gesagt, wo ich mich gerade aufhielt. Und die Wahrheit über euch beide habe ich ihr auch nie erzählt.«
Wie Umberto uns nun erklärte, hatte er damals befürchtet, Eva Maria könnte - hätte sie von ihren zwei Enkeltöchtern gewusst - darauf bestehen, dass wir alle wieder nach Italien kamen. Ihm war klar, dass er nie zurückkehren durfte. Die Leute würden ihn wiedererkennen, und zweifellos würde sich die Polizei trotz seines falschen Namens und Passes sofort auf ihn stürzen. Außerdem kannte er seine Mutter gut genug, um zu wissen, dass sie, selbst wenn sie nicht auf unserer Rückkehr bestand, einen Weg finden würde, uns Mädchen zu sehen. Dadurch aber wäre unsere Sicherheit gefährdet gewesen. Andererseits hätte Eva Maria, wäre sie nicht in der Lage gewesen, uns zu sehen, höchstwahrscheinlich den Rest ihres Lebens damit verbracht, sich nach den Enkeltöchtern zu sehnen, die sie nicht kennenlernen durfte. Am Ende wäre sie an gebrochenem Herzen gestorben und hätte zweifellos Umberto die Schuld daran gegeben. Aus all diesen triftigen Gründen hatte er ihr niemals die Wahrheit gesagt.
Im Lauf der Jahre aber gelangte Umberto allmählich zu der Überzeugung, dass endgültig Gras über seine schlimme Vergangenheit in Neapel gewachsen war. Diese Illusion fand ein abruptes Ende, als er eines Tages eine Limousine auf Tante Roses Haus zufahren und vor ihrer Haustür halten sah. Aus dem Wagen stiegen vier Männer, von denen Umberto einen auf den ersten Blick als Cocco wiedererkannte. Er kam nie dahinter, wie sie ihn nach all den Jahren ausfindig gemacht hatten, nahm jedoch an, dass sie jemanden von der Telefongesellschaft bestochen hatten, Eva Marias Anrufe zurückzuverfolgen.
Die Männer verkündeten, Umberto schulde ihnen noch etwas und müsse nun seinen Verpflichtungen nachkommen, ansonsten würden sie seine Töchter aufspüren und ihnen unsägliche Dinge antun. Umberto antwortete ihnen, er habe kein Geld, woraufhin sie ihn nur auslachten und an die Statue mit den vier Edelsteinen erinnerten, die er ihnen schon vor langer Zeit versprochen habe. Als er ihnen begreiflich zu machen versuchte, dass das unmöglich sei, weil er nicht nach Italien zurückkehren könne, meinten sie nur achselzuckend, das sei aber schade, denn nun mussten sie sich auf die Suche nach seinen Töchtern machen. Am Ende erklärte Umberto sich bereit, es zu versuchen, und sie gaben ihm drei Wochen Zeit, den Schatz zu finden.
Ehe sie wieder aufbrachen, wollten sie ihm noch demonstrieren, wie ernst sie es meinten. Zu diesem Zweck gingen sie mit ihm in die Diele und begannen ihn zusammenzuschlagen. Dabei stießen sie gegen die venezianische Vase auf dem Tisch unter dem Lüster, die daraufhin zu Boden fiel und in tausend Scherben zerbrach. Durch den Lärm erwachte Tante Rose, die sich zu einem Nickerchen hingelegt hatte. Als sie aus ihrem Schlafzimmer trat und sah, was vor sich ging, begann sie oben an der Treppe laut zu schreien. Einer der Männer zog eine Waffe und wollte sie erschießen, doch Umberto schaffte es, die Waffe zur Seite zu stoßen. Unglücklicherweise verlor Tante Rose vor lauter Angst das Gleichgewicht und stürzte die halbe Treppe hinunter. Als die Männer weg waren und Umberto endlich nach ihr sehen konnte, war sie bereits tot.
»Die arme Tante Rose!«, rief ich aus. »Und zu mir hast du gesagt, sie sei friedlich eingeschlafen!«
»Ja, da habe ich dich angelogen«, räumte Umberto mit gepresster Stimme ein. »In Wirklichkeit ist sie meinetwegen gestorben. Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte dir das gesagt?«
»Es wäre mir lieber gewesen«, erwiderte ich leise, »du hättest uns die
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