Julian und das Ende der Nacht
auslachen. Diese Zeilen waren wie ein tiefer Blick in Emelys Seele, den sie selbst nie gewagt hatte. Die Kerze, die auf Maries Nachtschrank brannte, flackerte, als ob sie Emely warnen wollte, diesen Ort zu verlassen, doch Maries Zeilen hielten sie gefangen. Uns vertraute man die Mission an, der Welt die ursprüngliche Unschuld des Garten Edens wiederzugeben. Unsere Aufgabe ist es, das neue Eden zu schaffen. Unsere Väter sind Götter einer Welt, die mit dem Bösen keine Gnade kennt. Heute werde ich Emely...
Emely stockte der Atem. Ängstlich blickte sie sich im Schlafzimmer um. Jemand war hier gewesen und hatte Marie daran gehindert, ihren Satz zu vollenden. Fest presste Emely Maries Tagebuch an ihre Brust. Vor einem Jahr, an Emelys achtzehntem Geburtstag, war Marie verschwunden und Emely hatte sich tausend Verbrechen im Kopf vorgestellt, nun hatten Maries Zeilen eine Wahrheit offenbart, die Emely die Hoffnung raubte, dass das Verschwinden ihrer Schwester je aufgeklärt würde. Entmutigt blies Emely die Flamme der Kerze aus. In Emelys Kopf herrschte Erkenntnis und Verwirrtheit gleichermaßen. Wo konnte sie nach Antworten suchen? Seufzend erhob sich Emely und trat an das stark verschmutzte Fenster heran, um einen Blick in Maries Garten zu werfen, den ihre Schwester so liebevoll gepflegt hatte, doch das war lange her, heute verirrten sich nicht einmal Vögel in die Zweige der Kirschbäume, die in dem verwilderten Garten standen. Nach Maries Verschwinden war Emely in eine kleine Wohnung gezogen und nie in das Haus ihrer Kindheit zurückgekehrt. Emely überfiel ein panisches Gefühl und nahm ihr den Atem, als sie mehrere Männer mit langen schwarzen Haaren durch den Garten schleichen sah.
48
Vom Schmerz überflutet stand Tamino nach einem rauschenden Fest mit einem Glas Wein vor Emmas Gemälde. Seit zweihundert Jahren schenkte sie ihm ein Lächeln, das auf ewig so verweilen würde. „Dürfen wir eintreten, mein Herrscher?“
„Ist sie nicht atemberaubend schön, John?“, fragte Tamino, ohne sich umzudrehen.
„Wieso hängt hier ein Gemälde meiner Schwester?“, Marie war sichtlich verwirrt. Wütend fuhr Tamino herum. „Was redest du da, Weib!“ Erschrocken presste sich Marie an John.
„Ich wollte dich nicht aufregen“, stammelte sie. „Was wolltest du dann?“ „Die Frau auf diesem Gemälde gleicht meiner Schwester bis aufs Haar“, erklärte Marie leise, „es tut mir leid, wenn dich das aufregt.“ Tamino atmete tief durch. „Entschuldigt mein Benehmen. Was kann ich für euch tun?“
„Ich vermisse meine Schwester. Ich möchte deine Erlaubnis, sie in die Unterwelt holen zu dürfen“, bat Marie mit leiser Stimme.
„Ich erinnere mich an deine erste Zeit bei uns. Du warst nicht glücklich hier. Als ich dich fragte, ob du deine Schwester bei dir haben willst, hast du geantwortet, du willst deiner Schwester nicht das Licht rauben. Was hat sich seither geändert?“ „Heute ist ihr achtzehnter Geburtstag. Ab heute fühlen die Söhne der Nacht ihr göttliches Blut. Auf der Erde ist sie in Gefahr. Sie wird sich an die Dunkelheit gewöhnen, so wie ich. Bitte, gib uns deine Erlaubnis“, flehend blickte Marie zu Tamino auf.
„Deine Schwester sieht aus wie die Frau auf diesem Gemälde?“
„Emely ist ihr Spiegelbild“, erwiderte Marie vorsichtig. „Emely!“ Tamino lachte bitter.
„Habe ich etwas Falsches gesagt?“ Hilflos blickte Marie in Johns Augen. „Der Name der Frau auf diesem Gemälde war Emma. Sie hat Tamino vor zweihundert Jahren viel bedeutet“, erklärte John. „Sie bedeutet mir immer noch alles auf der Welt!“, fuhr Tamino seinen Freund an. „Von mir aus holt sie. Doch ihr werdet sie von mir fernhalten!“ Ich will sie weder sehen noch hören!“, stellte Tamino klar und wandte sich wieder Emmas Gemälde zu. Das Letzte, was er brauchte, war eine Kopie von Emma, die ihm täglich vor Augen hielt, was er verlor.
„Danke“, hauchte Marie und verließ mit John den Saal, den sie nie vorher betreten durfte. Er war Taminos Rückzugsort. Nur weil sie ihrem Ehemann wegen ihrer Schwester in den Ohren gelegen hatte, hatte er zugestimmt, Tamino aufzusuchen. „Wo werden wir Emely unterbringen?“
„Sie wird bei uns leben.“
„Hast du nicht gehört, was Tamino gesagt hat? Er will von ihr nichts sehen und nichts hören.“
„Ich weiß, was er gesagt hat.“ John grinste.
„Wieso grinst du so?“
„Ich grinse, weil ich glaube, dass unser Reich bald eine Königin hat.“ „Wie kommst
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