Julias Geheimnis
erinnerte sie an jenen Tag und würde es immer tun.
Das Dilemma, vermutete sie, war ein moralisches und bestand in der Frage, ob jeder ein Recht auf die Wahrheit hatte.
Im Allgemeinen sagte Vivien die Wahrheit und betrachtete sich als ehrlich, offen und geradeheraus. Und sie hatte auch dieses Geheimnis nie für sich behalten wollen – zumindest am Anfang nicht. Aber man musste an die Folgen denken. Schließlich gab es so etwas wie Notlügen – Unwahrheiten, die die Gefühle anderer schützten und verhinderten, dass sie verletzt wurden.
Schützte sie jemandes Gefühle? Verhinderte sie, dass jemand verletzt wurde? Vielleicht. Was würde passieren, wenn sie es erzählen würde? Dieser Gedanke machte Vivien Angst. Das war das Problem mit Geheimnissen; sie entwickelten ein verborgenes Eigenleben. Sie wählte einen breiten Pinsel aus und fuhr mit der Handkante über das Papier, um es zu glätten, damit sie beginnen konnte. Was konnte schlimmstenfalls geschehen?
Vivien hörte das Klappern der Haustür und Toms vertrautes Pfeifen.
»Wo bist du, meine Schöne?«, rief er.
Vivien lächelte. Ja, sie hatte Glück. »Bei der Arbeit«, antwortete sie. Sie befand sich im Wohnzimmer. Es war groß, es war unordentlich, und es war heimelig. Vivien hatte die Glastüren, die in den Garten führten, aufgerissen, und die Sonne setzte die abgeschabten Zotteln des Teppichs und das verblasste Rot ihres großen, alten, gemütlichen Sofas in Flammen und leuchtete den Staub aus, der sich auf denHolzmöbeln niedergelassen hatte. Die meisten Möbel hatte Tom geschreinert, zum Beispiel kurz nach ihrer Hochzeit das elegante Bücherregal aus Mahagoni. Der Tisch, an dem sie arbeitete, war zugestellt mit Farbtuben, einer Palette, einem Glas mit Pinseln und Wasser und der Blumenvase. Der Tisch stand so voll, dass man das wunderschöne, gemaserte Walnussholz darunter kaum erkennen konnte. Doch Vivien wusste, dass es da war, und das war ein gutes Gefühl. Sie liebte Toms Möbel und die manchmal wochenlange gewissenhafte Arbeit, die Liebe und Zuneigung, die er in seine Stücke steckte.
»Arbeit? An so einem sonnigen Tag?« Tom stand in der Tür. Er zog seinen Pullover aus, als wolle er demonstrieren, wie warm es war, und warf ihn über eine Sessellehne. Er hatte recht, für März war es ziemlich warm.
Manchmal wirkte Tom nicht viel älter als damals vor über dreißig Jahren, als sie sich kennengelernt hatten. Allerdings wurde sein Haar langsam grau, und er war ein wenig weltverdrossen. »Die Leute wollen keine handgemachten Möbel mehr«, sagte er manchmal wehmütig. »Sie wollen billige Möbel aus der Fabrik. Wer könnte es ihnen verdenken?« Dann legte Vivien die Arme um seinen traurig aussehenden Rücken, und sie nahm es diesen Leuten leidenschaftlich übel. Sie würde nie aufhören, seine Arbeit zu lieben, auch wenn er heutzutage mehr Zeit damit verbrachte, Küchenschränke und Fußleisten zu reparieren, als damit, Tische und Kommoden herzustellen. Trotzdem hatte Tom noch immer dieselben funkelnden braunen Augen und den Sinn für Spaß wie damals, als sie sich in ihn verliebt hatte.
Vivien hatte nie mit jemand anderem als Tom zusammen sein wollen.
Sie erinnerte sich daran, wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, an die blecherne Jahrmarktsmusik, das Zischen der Karussells, das Lachen der Jungen und das Kreischen der Mädchen. Der süße, klebrige Geruch von Zuckerwatte und kandierten Äpfeln hing in der Luft, und neonbunte Glühbirnen glitzerten im Dämmerlicht des Sommerabends. Jahrmarkt in Charmouth Fair.
Vivien war sechzehn. Sie und ihre Freundin Lucy campten auf einem Feld hinter einem Pub im Dorf. Sie machten zum ersten Mal allein Urlaub in Dorset. Ihren Eltern hatten sie erzählt, dass sie wandern und in Jugendherbergen übernachten würden, aber in Wahrheit trampten sie und blieben nach Lust und Laune, wo es ihnen gefiel.
Bei dieser Gelegenheit hatten Lust und Laune sie nach Charmouth geführt. Sie hatten gehört, dass in der Stadt Jahrmarkt war. Daher saßen sie mit Spiegeln und Wimperntusche auf ihren Schlafsäcken und machten sich zum Ausgehen fertig. Heute brauchten sie nicht um eine bestimmte Zeit zurück zu sein. Denn sie waren allein hier. Und sie waren frei …
Als sie zur Dorfwiese gingen und Vivien die Musik hörte, stieg ihre Aufregung. Es war nach acht Uhr, aber noch hell. Die meisten Familien waren schon nach Hause gegangen, doch auf dem Jahrmarkt ging es erst jetzt richtig los. Gruppen von Mädchen und
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