Julias Geheimnis
konnte ja sein, dass sich in diesem ganzen Kram doch etwas Wichtiges verbarg. Ihre Eltern waren beide nicht die ordentlichsten Menschen der Welt gewesen.
Moment mal … Sie betrachtete die Schrift genauer. Was war das denn? Sie setzte sich aufrecht hin, blinzelte und las es noch einmal. Im Anschluss an unsere Konsultationen und Untersuchungen bestätige ich die Diagnose »Unfruchtbarkeit ungeklärter Ursache« … Unfruchtbarkeit? Sollten Sie die Möglichkeit der besprochenen Fruchtbarkeitsbehandlung nutzen wollen, rufen Sie bitte in der Praxis an, um Ihren ersten Termin zu vereinbaren. Was in aller Welt hatte das zu bedeuten? Ruby überprüfte das Datum des Briefs. Er war sieben Monate vor ihrer Geburt verfasst worden.
Sie las den Brief noch einmal – und dann noch einmal. Aber an seinem Inhalt änderte sich nichts. Sieben Monate vor Rubys Geburt hatte man Rubys Eltern erklärt, dass einer von ihnen steril sei und dass sie keine Kinder bekommen könnten. Unfruchtbarkeit ungeklärter Ursache. Ganz gleich, wie man es betrachtete; es ergab keinen Sinn. Denn sieben Monate später hatte ihre Mutter Ruby zur Welt gebracht.
Ruby betrachtete die Wicken, die in einer Vase auf dem Tisch standen. Das stimmte doch, oder?
2. Kapitel
20. MÄRZ 2012
S ollte sie – oder sollte sie nicht? In letzter Zeit hatte Vivien immer öfter darüber nachgedacht – öfter, als sie es eigentlich wollte. Es störte ihr inneres Gleichgewicht und gefährdete ihren Seelenfrieden. Es war lange her. Also: Sollte sie die Wahrheit sagen oder nicht?
Um sich abzulenken, betrachtete sie die Blumen, die sie in ihrem verwilderten Garten gepflückt hatte, mit kritischem Blick. Ein dorniger, knallgelber Forsythienzweig, ein paar Zweige weichblättriger Salbei, der noch Knospen trug, eine einzige, frühe, cremefarbene Rose. Sie steckte sie so um, dass der duftende Salbei über den Rand des Terrakotta-Topfes hing. Von Gelb zu Grün zu Cremeweiß und zurück zu Gelb: Farben, die sich mischten, so hatte Vivien es gern. Malen, was man sieht, und nicht, was man zu sehen glaubt.
Ein berühmter Künstler hatte das gesagt – Monet oder vielleicht Van Gogh. Wahrscheinlich war es beim Impressionismus darum gegangen. Man sträubte sich dagegen, so zu malen, wie es das Hirn von einem verlangte: ein flaches Meer zum Beispiel, mit weißen Wellen. Stattdessen malte man es so, wie die eigenen Sinne es wahrnahmen: bewegte, gekräuselte, wogende Linien, gesprenkelt mit Lichtpunkten und Schattenflecken, alle Farben – Grau, Grün, Weiß, Blau, Dunkelviolett –, getrennt und ineinanderlaufend, sich mit der Brise und der Strömung verschiebend und auf Sandstränden oder grauen Felsen zu Kringeln auslaufend. Bei ihren Blumenaquarellen ging Vivien gern noch einen Schritt weiter und mischte die Farben so, dass sie verschwammen und ineinanderflossen. Nass in Nass, sodass alles im Fluss blieb und eins wurde.
Sollte sie – sollte sie nicht? Auf ganz ähnliche Art gab es bei dieser Entscheidung – die nichts mit Kunst zu tun hatte – keine klare Linie, die Grenzen waren verschwommen. Manche Wahrheiten waren so. Zuerst einmal würde sie sehr tapfer sein müssen.
Vivien kramte in ihren Farben herum. Sie zog Aquarellfarben hervor, weil sie die Transparenz, das opake Finish und das Fließvermögen besaßen, die sie anstrebte. War sie tapfer? Eigentlich nicht. Sie war allerdings dankbar. Gott, war sie dankbar!
Die Frage war nicht, ob sie es hätte tun sollen oder nicht. Wenigstens diese Entscheidung war eindeutig gewesen. Sie hatte gespürt, dass ihr nichts anderes übrig blieb – ihnen beiden . Jemand anderer hätte danach vielleicht einen anderen Weg beschritten. Aber nicht Vivien. Um sie war es geschehen gewesen. Widerstand zu leisten, lag nicht in ihrer Natur. Sie hatte schon immer mehr mit dem Herzen als mit dem Kopf entschieden. Und so …
Nein, die Frage war, ob sie ihr Geheimnis dem einen Menschen verraten sollte, der es vielleicht zu erfahren verdiente, oder nicht. Die schwierige Frage war, ob sie die Wahrheit sagen sollte. Denn manchmal war es schwer, die Wahrheit zu erzählen, und noch schwerer, sie anzuhören.
Für den Hintergrund wählte sie eine blasse, minzgrüne Lasur, so schwach, dass sie fast gar nicht vorhanden war, nur ein Hauch von Farbe, so leicht wie das Gefühl einer Gazestola auf ihren Schultern. Sie begann, die Farben zu mischen, und summte dabei leise einen Song von Joni Mitchell. »Little Green.« Er
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