Julias Geheimnis
staubig, selbst in der Kapelle, die verschnörkelte Steinornamente in Rosa- und Blautönen schmückten. Die verblassten Fresken über dem Altar stellten die Kreuzigung dar. Zwei Stunden hatte sie gebetet, aber heutzutage merkte sie kaum noch, wie die Zeit verging. Sie zog einfach vorüber. Sie hatte immer noch so viele Fragen an Ihn. Was sollte sie tun? Konnte Er ihr nicht ein Zeichen geben?
Doch jetzt musste sie sich beeilen. Sie lebten nur noch zu zwölft hier im Kloster Nuestra Señora del Carmen, der Schutzheiligen der Fischer, und diese Woche gehörte es zu Schwester Julias Pflichten, in dem kleinen Garten, der zu dem Kloster gehörte, Gemüse und Kräuter zu ernten. Sie zogen Wermut, Aloe und Echinacea sowie die verbreiteteren Kräuter Minze, Kamille und Rosmarin. Jede Pflanze hatte ihren Nutzen. Sí . So hatte Gott es geplant, und Er hatte derMenschheit die Kraft geschenkt, Seine Gaben zu gebrauchen. Aber die Menschen waren schwach. Hatte Er das denn nicht gesehen? Menschen konnten der Versuchung zum Opfer fallen. Die Menschen besaßen einen freien Willen, trafen aber so oft die falschen Entscheidungen. Und die Folgen dieser Entscheidungen konnten so weitreichend sein, dass man sie sich kaum vorstellen konnte. Schwester Julia wollte nicht die falsche Entscheidung treffen – nicht nach allem, was geschehen war. Es hatte schon so viel Leid gegeben, Leid, das immer noch tief in ihrem Herzen begraben war.
Schwester Julia ging durch die verwitterten, hellen Bogengänge der abgeschiedenen Steinkapelle und verließ sie durch die Hintertür. Dieser Ort unterschied sich nicht sehr vom Kloster Santa Ana in Barcelona, in dem sie gelebt hatte, als sie noch ein ganz junges Mädchen gewesen war. Ihre Gemeinschaft war kein Klausurorden; die Schwestern konnten nach Belieben kommen und gehen und in der Eingangshalle ihre Süßigkeiten verkaufen, genau wie früher die Schwestern in Santa Ana. Lächelnd dachte sie zurück an ihre suspiros de monja – die »Nonnenseufzer« aus dickem Backteig und kandierten Früchten. Außen waren sie goldbraun und knusprig und innen fett und cremig. Hmmm . Doch in Santa Ana hatte sich alles verändert. Man hatte noch etwas anderes von ihr verlangt … Schwester Julia sah zu dem kleinen Glockenturm auf, der sich auf einem Sockel an die Kapelle anschloss. Sie schwankte und hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten.
Draußen hatte sich das goldene Licht des Tages in ein blasses Pink verwandelt. Die Berge im Süden lagen da, als ob sie schliefen, und mit ihren tief eingeschnittenen Täler sahen sie aus wie verwundet, als trügen sie tiefe Narben in ihremRücken. Und über ihnen zückte der dämmrige Himmel Dolche in Rot, Orange und Weiß. Ein weiterer Tag war vorüber. Sie war dem Tod wieder einen Tag näher gekommen …
Hinter Schwester Julia lag ein langes Leben, ein Leben voller Herausforderungen, die so ganz anders gewesen waren, als sie es als Mädchen erwartet hatte, und auch anders als das, was sie sich vorgestellt hatte, als man sie gezwungen hatte, die ersten einfachen Gelübde abzulegen. Einfach war es nicht gewesen – vielleicht war Gottes Werk niemals leicht –, und oft hatte sie das Geschehene hinterfragt. Das tat sie immer noch. Sie hatte so unruhige, schwere Zeiten erlebt. Aber jetzt … Bitte, Gott … Im Moment wünschte sie sich nur, dass die Last, die sie trug, von ihren Schultern genommen würde. Dass sich Frieden ausbreiten würde wie eine sanfte Decke und ihrem Geist und ihrer Seele Ruhe schenken würde.
Sie holte den grob geflochtenen Korb und das scharfe Messer aus dem äußeren Vorratsraum, um in dem Garten, der von niedrigen Trockensteinmauern umgeben war, den Salat für das heutige Essen zu schneiden. Sie hatten Feigen- und Mandelbäume, Legehennen und drei Ziegen, die Milch und Käse lieferten. Die Nonnen aßen einfach, aber gut. Genau wie in Santa Ana zogen sie den größten Teil ihres Obsts und Gemüses selbst, obwohl das Land hier auf Fuerteventura ausgedörrt und trocken war. Sie ernteten Kartoffeln, Zwiebeln und die kleinen kanarischen Bananen. Auch gofio aßen sie noch, einst der Proviant für die Landarbeiter, die das geröstete Mehl in einem Beutel aus Ziegenleder mit Wasser und Zucker zu einem Teig kneteten. Heutzutage aßen sie es mit Milch als Frühstücksbrei, oder sie dickten damit ihre Suppen und ihre Schmorgerichte an. Wie so vieles hatte esüberdauert und sich der neuen Zeit angepasst. Und doch symbolisierte es für
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