Julias Geheimnis
Jungen waren unterwegs, junge Paare flanierten Hand in Hand, und die jungen Männer, die die Fahrgeschäfte betrieben, stolzierten über die Stege und machten den Mädchen schöne Augen.
Vivien und Lucy gingen zur Walzerbahn und sprangen in die silberne Gondel. Der junge Mann drehte den Wagen im Kreis, das Karussell fuhr schneller, und sie klammerten sichso fest an das metallene Handgeländer, dass ihre Knöchel weiß wurden. Sie warfen die Köpfe zurück und kreischten vor Lachen und Angst. Die wilde Fahrt war viel zu schnell vorüber.
»Noch einmal?«, fragte Vivien.
»Darauf kannst du wetten«, sagte Lucy. Sie kicherten.
Vivien sah die beiden jungen Männer, die geradewegs auf sie zukamen. Sie stieß Lucy an. »Schau nicht hin …« Aber sie tat es doch.
»Habt ihr noch Platz für zwei?«, erkundigte sich der größere der beiden und zog eine dunkle Augenbraue hoch.
Vivien kam sich sehr verwegen vor. »Warum nicht?« Sie rückte beiseite, um Platz zu machen, und er setzte sich neben sie.
»Ich heiße Tom«, erklärte er. »Tom Rae.« Er lächelte.
Vivien hatte gerade noch Zeit zu bemerken, dass seine Augen braun waren und bernsteinfarbene Flecken hatten. Dann wirbelte die Gondel los, die Mädchen kreischten, und die Fahrt begann.
»Wie heißt du?«, rief er ihr zu.
Sie war vollkommen der Meinung des Songs. »Vivien!«, schrie sie über das Geschrei und den Song von Amen Corner hinweg zurück, der ihr vollkommen aus dem Herzen sprach. » If Paradise is Half as Nice …«
Nach der Walzerfahrt hatten sich die Paare gefunden. Toms Freund Brian hatte schon den Arm um Lucy gelegt. Vivien fragte sich, was sie tun sollte, wenn Tom den Arm um sie legte. Ob er versuchen würde, sie zu küssen?
Als Nächstes fuhren sie Autoscooter. Die beiden jungen Männer übernahmen jeweils das Steuer, die Stromabnehmerschlugen Funken an dem Gitternetz unter der Decke, und die Wagen streiften sich, prallten gegeneinander und sprangen dabei sogar gelegentlich ein bisschen in die Luft. In Toms Nähe wurde Vivien ganz warm. Sie roch den Schweiß auf seiner Haut und einen Hauch von Sandelholz und schloss die Augen.
Danach kam die Achterbahn, und sie hatte das Gefühl, minutenlang bewegungslos hoch oben am dämmrigen Abendhimmel zu schweben, während Tom ihr ins Gesicht sah, als wolle er sich jeden ihrer Züge einprägen. Vivien erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken, und fragte sich, was er gesehen hatte. An der Schießbude fühlte sie sich bereits wie in Trance. Die anderen plauderten und lachten. Tom konzentrierte sich, zielte und schoss; drei Minuten später schenkte er ihr stolz einen gelben Teddy. Und dann aßen sie kandierte Äpfel, die an Viviens Zähnen klebten, und tranken Fanta aus der Dose.
Als Tom Vivien schließlich zu ihrem Zelt zurückbrachte – Lucy ging mit Brian hinterher –, hatte er bereits den Arm um sie gelegt, und die beiden hatten sich ihre Lebensgeschichten erzählt. Vivien wusste inzwischen, dass Tom in Sherborne in Dorset wohnte, weit entfernt von West Sussex, dass Werken sein Lieblingsfach war und dass er Tischler werden wollte. Möbelbauer. Meisterhandwerker, wenn man so will. Es gefiel ihr, wie er redete – leise und ruhig und mit dem sympathischen kehligen R des Dorseter Dialekts. Und sie spürte von Anfang an, dass Tom Rae zu seinem Wort stehen würde. Sie wusste, dass er ein Einzelkind war wie sie, dass er seine Eltern schon als Kind verloren hatte und bei seiner Tante und seinem Onkel lebte und dass er auf ein Motorrad sparte.
Als sie das Zelt erreicht hatten, verstummte er plötzlich.
Vivien wusste ebenfalls nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte schon lockere Beziehungen zu Jungs gehabt, aber keiner davon hatte ihr wirklich etwas bedeutet. Hatte sie sich nur in diesen dunkelhaarigen, schlacksigen Jungen mit den braunen Augen und dem herzlichen Lächeln verguckt, weil sie im Urlaub war? Lag es an seinem Akzent und seinem fremden männlichen Geruch am Abend? Oder hatten der Rausch und die Aufregung der Karussellfahrten sie so aufgewühlt?
»Dann sage ich wohl besser gute Nacht«, erklärte Tom schließlich. Er trat einen Schritt auf sie zu.
Und dann lag sie in seinen Armen und hatte das Gefühl, dort besser aufgehoben zu sein als irgendwo zuvor. Er küsste gut und schmeckte nach Apfel. Sie hoffte nur, dass keine Toffeestückchen mehr an ihren Zähnen klebten.
Nachdem die beiden jungen Männer fort waren, analysierten Vivien und Lucy jeden Moment des
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