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Julias Geheimnis

Julias Geheimnis

Titel: Julias Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
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Schwester Julia die Schlichtheit ihres Lebens hier.
    Schwester Julia fürchtete den Tod nicht, das hatte sie nie getan. Im Lauf der Jahre hatte sie viele Menschen sterben sehen   – Schwestern im Kloster, Menschen in dem Krankenhaus, in dem sie als junge Novizin gearbeitet hatte, und auch die Mitglieder ihrer eigenen Familie. Sie waren alle nicht mehr da. Und sie hatte den Bürgerkrieg miterlebt. Wer das getan hatte, der hatte an jeder Straßenecke den Tod gesehen, ihm ins Gesicht gestarrt und ihn gerochen   – ein blutiger, widerlicher Gestank. Politik. Krieg. So viel Zerstörung. Schwester Julia erschauerte.
    Denn sie fürchtete, dass sie nicht ohne Schuld war. Für viele Menschen waren das schwere, schmerzvolle Zeiten gewesen. Wie konnte man das verstehen, wenn man es nicht erlebt hatte? Sie hatte versucht, Gott um Verzeihung zu bitten für das, was sie getan hatte. Handlungen, die man von niemandem verlangen durfte. Taten, die nicht richtig gewesen sein konnten, die unmöglich Gottes Wille gewesen waren. Nicht, wenn Er der freundliche, gerechte und liebende Gott war, für den sie Ihn immer gehalten hatte. Aber hörte Er sie? Verstand Er, dass sie das Gefühl gehabt hatte, keine andere Wahl zu haben?
    Sie hielt kurz inne, um über den campo hinaus auf die Landschaft aus braunem Wüstenboden zu schauen, die so erholsam für das Auge war. Schwester Julia kam sie wie eine biblische Landschaft vor, eine Landschaft, in der man erwarten würde, Kamele und Pferde zu sehen und drei weise Männer, die dem Licht eines Sterns nachreisten   … Aber sie war alt, und ihre Gedanken schweiften ab. Sie musste den Salatin die Küche bringen. Die anderen warteten. Sie nahm ihren Korb.
    Hier war es sehr ruhig. Heutzutage besuchten nur wenige Menschen das Kloster, um spirituellen Rat zu suchen oder in der Kapelle zu beten. Die Straße draußen war kaum mehr als eine Sandpiste, die in die Berge und zum Atlantik führte. Die Schwestern redeten nicht viel, obwohl sie keinem Schweigeorden angehörten. Es wurde als Selbstverständlichkeit betrachtet, dass fromme Frauen nicht viel sprachen; müßiges Geschwätz hatte man in Santa Ana vermieden, und hier war es genauso. Meist waren die einzigen Geräusche, die Schwester Julia hörte, das Heulen des Windes, der um die weißen, pockennarbigen Gebäude fegte, das Zischen des Sandes, der in die Luft gehoben und verweht wurde; das ferne Auf und Ab der Meereswellen und gelegentlich der durchdringende Schrei einer Möwe. Morgens krähte der Hahn, und die Hennen kratzten in der staubigen Erde. Es war der reine Klang der Natur. Und Schwester Julia war es nur recht so. Nach allem, was sie erlebt hatte, sehnte sie sich nach Ruhe und Frieden für ihre Seele.
    Schwester Julia brachte die Salatblätter in die Küche und wusch sie in dem weißen Emaillebecken sorgfältig unter dem Wasserhahn. Das Wasser hier war salzig, aber sauber. Früher hatten sie einen Brunnen gehabt, und vor dem Tor stand noch ein Kalkofen, in dem sie Kalikraut verbrannt hatten, um Natriumkarbonat für die Herstellung von Glas und Seife zu gewinnen. Aber vor einigen Jahren hatten die Dorfbewohner Geld gesammelt, damit das Kloster an das öffentliche Wasser- und Stromnetz angeschlossen werden konnte, und dadurch hatte ihr Leben sich radikal verändert.
    Sie legte den Salat neben den Herd auf die Küchentheke.Sie kochten heiße Suppe   – caldo caliente   – mit Kartoffeln und Eiern in einer dünnen Brühe mit süßen roten Paprika. Schwester Josefina rührte sie mit einem Holzlöffel um. Sie lächelte und nickte dankend.
    Schwester Julia zog sich in ihre Zelle im ersten Stock zurück. Vor dem Abendessen war ihr eine kurze Zeit zum Ausruhen und zur Kontemplation vergönnt. Sie musste nachdenken, denn sie wollte niemanden in Schwierigkeiten bringen   – nicht, wenn er wirklich aus den besten Beweggründen gehandelt hatte. Aber war das der Fall? Wo Geld im Spiel war, gesellten sich stets Versuchung und Korruption dazu. Und das hatte sie an allem zweifeln lassen, was sie einmal für wahr gehalten hatte. Das war lange her. Aber sie besaß die Beweise dafür immer noch, oder? Bei der Erinnerung traten Schwester Julia die Tränen in die Augen. Ja, es war lange her, aber vielleicht gab es immer noch Menschen, die verzweifelt nach der Wahrheit suchten. War das nicht ihr Menschenrecht? Und sie   – Schwester Julia, diese einfache Nonne   – konnte ihnen helfen.
    Ihre Zelle war klein und weiß getüncht. Darin standen ein

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