Julias Geheimnis
können. Und vielleicht spürten sie das Bedürfnis, sich zu offenbaren, so wie diese Frau auf dem Totenbett. Genau wie Schwester Julia selbst. Sie seufzte. Denn nun musste sie ihnen helfen, die Wahrheit zu finden. Sie konnte nicht einfach untätig bleiben und zulassen, dass Gott weiß wie viele Menschen, die inzwischen keine Kinder mehr waren, sondern Erwachsene, nie erfuhren, wer sie waren und woher sie kamen. Zumindest einigen konnte sie helfen.
Säuglingsdiebstahl … las sie. Menschenhandel . Unter diesem Gesichtspunkt hatte sie es nie betrachtet. Heilige Mutter Gottes, selbst in ihren dunkelsten Augenblicken hatte sie es nie so gesehen.
Und sie war darin verwickelt. Natürlich war sie das. Sie hatte die Frauen getröstet, die ihre Kinder verloren hatten. Aber sie hatte es nie in Frage gestellt, wenn ein Säugling für tot erklärt wurde. Wie kann das Baby gestorben sein? Zeigen Sie es mir. Lassen Sie mich das tote Kind sehen . Nie hatte sie das zu Dr. López gesagt. Wieder erschauerte sie. Sie hatte so etwas nicht gesagt, weil man ihr erklärt hatte, dass es ihr nicht zustünde, solche Fragen zu stellen. Genau wie die ledigen Mütter, auf die man Druck ausgeübt hatte, damit sie ihre Kinder zur Adoption freigaben, war sie schwach gewesen. Sie hatte sich von dem Arzt einschüchtern lassen, diesem geachteten, gottesfürchtigen Mann, der eine Stütze der Gesellschaft war und angeblich immer wusste, was das Richtige war.
Dabei hatte sie es geahnt, oder? Tief im Herzen hatte sie es gewusst. Warum hatte sie sonst die Namen aufgeschrieben? Warum hatte sie das Buch aufbewahrt und hütete es immer noch?
Schwester Julia hörte die Kinder auf dem Schulhof hinter dem Platz und die Musik aus der Acorralado-Bar, wo die Männer des Dorfs oft zusammenkamen, um zu trinken und Karten und Domino zu spielen. Das Leben ging weiter, als hätte sich nichts verändert. Aber für sie war alles anders geworden. Es war, als wäre ein Blitz vom Himmel herabgefahren und hätte ihr mit furchteinflößender Klarheit gezeigt, was geschehen war und was noch zu tun blieb.
Schwester Julia las weiter. Sie las, dass Tausende Spanier sich gemeldet hatten, weil sie glaubten, möglicherweise Opfer des Skandals zu sein. Sie las von Frauen, die sich sicher waren, dass ihre Babys ihnen weggenommen worden waren, aber damals nicht das Selbstbewusstsein besessen hatten, es mit der Ärzteschaft aufzunehmen, mit Priestern oder Nonnen, die schließlich Männer und Frauen Gottes waren, oder? Wieder bekreuzigte sie sich. Teilweise waren diese scheinbar so achtbaren Priester und Nonnen zutiefst korrupte Menschen gewesen. Einige dieser Männer und Frauen Gottes mochten unschuldig gewesen sein. Aber andere … Tränen stiegen ihr in die Augen, doch sie las weiter. Für Tränen war es zu spät. Sie las von Frauen, die manchmal nicht die Mittel gehabt hatten, das Begräbnis ihres eigenen Kindes auszurichten, die nach dem Strohhalm gegriffen hatten, den man ihnen anbot: der Erklärung, dass der Staat sich um alles kümmern werde. Diese Frauen hatte keine andere Wahl gehabt. Sie hatten geglaubt, was man ihnen erzählte, weil die Alternative unglaublich gewesen wäre.
Und sie las, dass auf diese Art möglicherweise mehr als dreihunderttausend Kinder gestohlen worden waren. Dreihunderttausend … Schwester Julia versuchte, das ganze Ausmaß dieses Verbrechens zu begreifen. Dann war es also in ganz Spanien geschehen. Und sie hatte zu den Tätern gehört. Gestohlen . Das war ein gefühlsgeladenes Wort. Es widersprach allem, woran sie je geglaubt hatte. Und doch war es wahr. Dr. López hatte diese Kinder gestohlen, um sie für enorme Geldsummen zu verkaufen. Und sie, Schwester Julia, hatte ihm dabei geholfen.
Es war noch früh, aber die Sonne wurde heiß, und Schwester Julia hatte das Gefühl, kaum atmen zu können. Sie hätte sich eine Flasche mit Wasser mitnehmen sollen. Trotzdem konnte sie nicht aufhören zu lesen.
Aufgrund von Francos Adoptionsgesetz aus dem Jahr 1941, las sie, waren DNS -Tests die einzige Möglichkeit, eine Verwandtschaft zu beweisen. Das würde die Sache langwierig und frustrierend machen. Die Kinder waren innerhalb des ganzes Landes und auch in andere Länder vermittelt worden, die Akten hatte man vernichtet. Gut, das wusste Schwester Julia auch. Es gab keine Aufzeichnungen. Die meisten niños robados würden nie erfahren, wer ihre leiblichen Eltern gewesen waren.
Sie dachte darüber nach. Sie dachte an ihre eigene Familie –
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