Julias Geheimnis
ihrem Schoß lag.
Schwester Julia zuckte zusammen.
»Sie haben schlimme Dinge in der Zeitung gelesen, no ?« Offenbar wollte er ins Gespräch kommen.
Schwester Julia nahm ihre ganze Kraft zusammen und schickte ein lautloses Gebet zu Gott. »So ist es, mein Sohn«, murmelte sie. Denn sie hatte immer noch Pflichten. Sie durfte nicht nur an sich denken. Viele andere Menschen brauchten Hilfe, und dieser Mann gehörte möglicherweise dazu.
Er nahm die Zeitung. Schwester Julia erstarrte. Sie glaubte nicht, dass sie in der Lage war, darüber zu sprechen. Nicht mit diesem Mann. Mit niemandem, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt.
Aber er stieß nur einen tiefen Seufzer aus und warf die Zeitung beiseite. »So ist das Leben, sí «, meinte er.
Nein, dachte Schwester Julia. Das war der Tod. Ein wenig unsicher stand sie auf.
Der Mann sah zu ihr auf und legte den Kopf zur Seite.»Kann ich etwas für Sie tun, Schwester?« Seine Augen waren sehr dunkel. Unergründlich.
Was sie brauchte, war Wasser. Aber sie musste auch zurück ins Kloster. Ihre Gefühle waren in Aufruhr. Noch dringender als Wasser brauchte sie das Gebet. »Danke, mein Sohn, mir geht es gut«, sagte sie.
Er zog eine Flasche Wasser aus einer Stofftasche, die um seinen Hals hing, und reichte sie ihr mit einem Achselzucken.
Er hatte selbst daraus getrunken; die Flasche war halb leer. Aber Schwester Julia zögerte nicht. Sie setzte sie an die Lippen und fing dabei seinen durchdringenden Blick auf. Wer war er? Warum kam es ihr so vor, als wolle er etwas von ihr?
Sie wollte ihm die Flasche zurückgeben, aber er wehrte mit einer Handbewegung ab. »Behalten Sie sie, Schwester«, sagte er. »Vielleicht brauchen Sie sie unterwegs noch.«
Schwester Julia eilte zurück nach Nuestra Señora del Carmen, ohne etwas auf den Wind, die Sonne oder ihre ausgedörrte Kehle zu geben. Sie hastete in die Kapelle, um zu beten. Nur Gott konnte ihr jetzt helfen. Gott allein konnte ihr sagen, was sie tun sollte.
31. Kapitel
U nd mit wie vielen Künstlern hat die Gruppe begonnen?«, wollte Ruby von Steph wissen. Sie interviewte Stephanie Grainger für die Lokalzeitung Echo . Steph hatte die Künstlergruppe begründet, der Andrés angehörte, und sie hatte hart dafür gearbeitet, Anerkennung für ihre Künstler zu gewinnen, obwohl sie vor fünf Jahren die Diagnose Multiple Sklerose erhalten hatte. Die bevorstehende Ausstellung am Ende des Sommers war so terminiert, dass sie mit anderen kulturellen Veranstaltungen in Dorset zusammenfiel, und hatte seit der ersten kleinen Ausstellung, die im Hinterzimmer des örtlichen Gemeindezentrums stattgefunden hatte, enorm an Beliebtheit gewonnen.
Steph lächelte. »Wir waren zu dritt. David hat in Öl gearbeitet, Kathryn in Keramik und ich in Pastell.«
»Und heute?«
»Sind wir über vierzig.«
»Die in den unterschiedlichsten Richtungen arbeiten, ich weiß.« Ruby hatte den größten Teil der Arbeiten, die in der Pride Bay und darüber hinaus gezeigt werden würden, bereits zu sehen bekommen und war beeindruckt. »Wer werden die Stars der Ausstellung sein? Dürfen Sie das sagen? Ist jemand dabei, der echtes Talent hat, jemand, auf den wir in Zukunft achten sollten?«
»Ein oder zwei. Ein junges Mädchen namens Patty Tyler, die Töpferarbeiten herstellt, ist von Interesse. Und Andrés Maríns Arbeit ist sehr beeindruckend.«
»Tatsächlich?« Ruby fragte sich, ob Steph wusste, dass sie ein Paar waren. Wahrscheinlich. Bestimmt hatte sie die beiden schon irgendwo gesehen. Im letzten Monat hatten sie und Andrés viel Zeit zusammen verbracht und sich einander offenbart – jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Sie hatten sich ihre Lebensgeschichten erzählt und entschieden, dass sie genug Gemeinsamkeiten hatten und einander zumindest vertrauen konnten. Trotzdem wusste sie, dass da noch etwas war, wovon er ihr nichts erzählt hatte.
Steph nickte begeistert. »Er malt wunderbare Aquarelle«, sagte sie. »Aber natürlich ist sein Vater Enrique auch ein erfolgreicher Künstler. Er hat seinem Sohn offensichtlich sein Talent vererbt.«
»Hmmm.« Ruby wurde klar, dass sie so gut wie nichts über Enrique Marín wusste. Wenn er von seiner Familie erzählte, sprach Andrés von seiner Mutter und seiner Schwester. Aber er redete selten von seinem Vater. Und wenn, dann legte er die Stirn in Falten, und seine Augen verdüsterten sich so, dass Ruby sofort den Wunsch verspürt hatte, das Thema zu wechseln. Sie hatte sich mehr als einmal gefragt, was
Weitere Kostenlose Bücher