Julias Geheimnis
Pflichten im Kloster und betete zu Gott. Sie riet den Dorfbewohnern, so gut sie konnte. Sie dachte an die betrübte Frau mit den dunklen Augen, die ihr diese Spitzentischdecke geschenkt hatte. Sie bewahrte sie immer noch auf. Sie dachte an die Geschichten, die sogar sie vielleicht noch nicht gehört hatte. Und jedes Mal, wenn sie an die Vergangenheit dachte und ihr Buch mit den Namen aufschlug … Die Wahrheit war, dass Schwester Julia auch nach all diesen Jahren noch darum kämpfte, inneren Frieden zu finden.
Auf einer Seite des Platzes lagen die ferretería – die Eisenwarenhandlung – und der bazar ; auf der anderen die Acorralado-Bar. Eine Frau ging vorüber. » Buenos días «, sagte sie zu Schwester Julia.
»Gott sei mit Ihnen«, antwortete diese.
Auf der Bank neben ihr hatte jemand eine Zeitung liegen gelassen. Schwester Julia warf einen Blick darauf. Auch nach all dieser Zeit war sie neugierig auf die Welt, aus der sie sich zurückgezogen hatte. Sie nahm die Zeitung, sah die Schlagzeile auf der ersten Seite. Niños robados – gestohlene Kinder. Was war das? Heilige Mutter Gottes . Sie bekreuzigte sich. Darunter war ein Bild. Es zeigte einen Untersuchungsraum, der dem in der Canales-Klinik so ähnlich sah, dass sie erschauerte. Die Erinnerungen waren sofort wieder da. Sie sah ein schmales Bett, in dem eine Frau lag, einen Chirurgiewagen mit den nötigen Instrumenten für die Geburt und eine Nonne, die ein Kind auf dem Arm hielt. Eine Nonne, Herrgott! Die Bilder stiegen in ihr auf, als wäre es gestern gewesen: die Frauen, die Babys, die Todesfälle. Sie konnte ihre Schreie hören, ihre Tränen sehen. Lieber Gott im Himmel! Sie hatte das Gefühl, als ob ihr Herz stillstünde.
Schwester Julia tastete nach ihrer Lesebrille, die sie in einem Täschchen am Gürtel trug. Ihre Hände zitterten. Niños robados . Spaniens gestohlene Kinder. Konnte das wirklich sein, wofür sie es hielt? Ja, allerdings. Es war ein Skandal, las sie. Wohl der größte Skandal aller Zeiten in ihrem Heimatland. Entsetzt schlug sie die Hand vor den Mund. Sie hatte keine andere Wahl, sie musste weiterlesen.
Der Skandal um die gestohlenen Babys war vor einigen Jahren aufgedeckt worden, las sie. Vor einigen Jahren …? Und sie war ihren Angelegenheiten im Kloster nachgegangen undhatte keine Ahnung davon gehabt, was in der Außenwelt passierte. Was hätte sie getan, wenn sie davon gewusst hätte? Schwester Julia dachte an das Buch mit den Namen. Ob sie den Mut gehabt hätte? So lange wartete sie schon auf ein Zeichen von Gott. Jetzt jedoch, las sie, gab es eine Organisation, die für diese Sache kämpfte: ANADIR – die Nationale Organisation der Betroffenen irregulärer Adoptionen.
Tief in ihr regte sich etwas. Das war gut. Menschen, die viel jünger und stärker waren als sie, nahmen den Kampf auf. Sie dachte an den spanischen Bürgerkrieg und die Hoffnungen, die ihre Familie gehegt hatte, weil sie alle geglaubt hatten, die Republikaner hätten gewonnen. Sie waren Rebellen gewesen; obwohl sie damals noch zu jung war, um das zu erkennen. Und diese Rebellen waren viele, viele Jahre lang unterdrückt worden. Mit Mitteln wie dieser irregulären Adoption. Schwester Julia ließ die Zeitung einen Moment lang auf ihrem Schoß liegen. Sie sah einem dreibeinigen Hund nach, der über den Platz hinweg auf den bazar zulief. Lieber Gott … Und sie war ein Teil davon gewesen. Ein Mädchen, dessen Eltern gegen die Werte dieser Nationalisten gekämpft hatten, war ein Teil der Verschwörung geworden, die ihrer Beherrschung diente.
Erneut nahm sie die Zeitung. Ihr drehte sich der Kopf, aber sie musste alles wissen. Sie las von einem jungen Mann, dessen Mutter ihm auf dem Totenbett die Wahrheit gestanden hatte: Es ist falsch, dir zu verschweigen, dass du nicht von meinem Blut bist. Ich habe dich für 150 000 Peseten von einem Priester gekauft. Einem Priester … Und doch war das nichts Neues für sie, oder? Wusste sie das nicht schon? Hatte sie nicht stellvertretend für einen Priester in der Calla Fontana Geld abgeholt und es Dr. López gebracht?
D ie Wahrheit kommt ans Licht . Die Menschen – ihre spanischen Landsleute – würden nicht für immer unterdrückt bleiben. Und diese Adoptiveltern … Sie waren nicht alle schlechte Menschen gewesen. Sie waren reich, ja, und sie sehnten sich nach einem Kind. Und sie waren schwach und verführbar wie alle Menschen. Aber schlussendlich würden auch sie nicht vergessen
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