Julias Geheimnis
Gott mochte sie segnen –, die sie auf eine andere Art verloren, aber immerhin gekannt hatte.
Doch das war noch nicht alles. Sie legte eine Hand an die Stirn. Schwester Julia hatte das Gefühl, als schnüre der Habit ihre Brust zusammen und die Haube drücke auf ihre Schläfen. Gräber wurden geöffnet und Verstorbene exhumiert. Heilige Mutter Gottes! Erneut bekreuzigte sich Schwester Julia.Ihr Atem ging rascher, und sie spürte das Flattern in ihrem Herzen und einen Schmerz in der Lunge, als bekomme sie nicht genug Luft. Die Gräber von Kindern, deren Müttern man erklärt hatte, sie seien tot, enthielten manchmal nur einen Arm oder ein Bein, manchmal die Leiche eines alten Menschen und überhaupt kein Kind.
Schwester Julia schloss die Augen und stützte sich mit dem Arm auf die Bank, damit sie nicht zitterte. Das war zu viel. Nonnen wie sie hatten in Krankenhäusern und Kliniken in ganz Spanien gearbeitet. Und nicht nur auf dem Festland, auch hier auf den Kanarischen Inseln, auf Fuerteventura, hatte es Fälle gegeben. Es war sogar hier geschehen, weil der politische Arm der Nationalistischen Partei und die Kirche, die zusammenarbeiteten, sich wie ein Krake ausgebreitet hatten und gnadenlos über sie alle geherrscht hatten . Lieber Gott, heiliger Vater, schenk mir Kraft .
Aber es war wahr. Nonnen wie sie hatten Mütter gepflegt und ihnen gesagt, ihre Kinder seien tot. Eine Nonne – Schwester Julia konnte diese Geschichte kaum glauben – war anscheinend an einer furchtbaren Täuschung beteiligt gewesen. Sie schlug eine Hand vor den Mund, denn kurz glaubte sie, sich übergeben zu müssen. Man hatte den Müttern als Beweis, dass ihr Kind tot war, ein tiefgefrorenes Baby gezeigt, einen Körper, den man genau zu diesem Zweck in einer Kühltruhe vorrätig hielt … Ein gefrorenes Baby … Schwester Julia erschauerte ein weiteres Mal. Ihr ganzer Körper schien unkontrollierbar zu beben, und kurz verschwand die Sonne, und es wurde schwarz um sie. Es war fast zu grauenhaft, um es zu ertragen.
Aber sie musste stark sein. Sie erinnerte sich daran, was ihre Schwestern einmal vor vielen Jahren zu ihr gesagt hatten, als sie sie in Santa Ana besuchten. Du hast Glück , hatten sie gesagt. Als Nonne spielst du eine wichtige Rolle in der Gesellschaft . Was Matilde und Paloma wohl sagen würden, wenn sie noch leben und davon erfahren würden? Was würden sie jetzt von der wichtigen gesellschaftlichen Rolle halten, die auszufüllen man von ihr verlangt hatte? Obwohl die Sonne warm vom Himmel schien, wurden die Schatten, die sie sah, länger. Sie reichten zurück bis zum spanischen Bürgerkrieg und waren ein Erbe, das ihre Gesellschaft bis auf den heutigen Tag verfolgte, ein Erbe voller Schmerz und Verrat.
Schwester Julia schob sich die Handknöchel in den Mund, damit sie nicht laut aufschrie. Was konnte sie tun? Warum hatte sie dieses Buch mit den Namen angelegt, wenn es keinen Zweck erfüllte?
Als ein Schatten über sie fiel, blickte sie von ihrer Lektüre auf. Es war ein Mann in den Sechzigern mit sonnengebräunter, ledriger Haut und dunklen Augen. Er trug einen blauen Overall und ein Tuch um den Kopf. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn schon einmal gesehen zu haben. Er rauchte eine dünne Zigarre und beobachtete sie mit neugieriger, beinahe wissender Miene.
» Buenos días , Schwester«, sagte er mit tiefer, fast gutturaler Stimme.
Bei seinem Gruß zuckte Schwester Julia zusammen und stellte fest, dass sie kein Wort herausbrachte. Aber sie konnte den Mann nicht einfach ignorieren, daher nickte sie nur. Bitte geh weg , dachte sie. Das war nicht gerade freundlich, aber … Bitte geh weg .
»Fühlen Sie sich nicht gut, Schwester?«, fragte er.
Ihr wurde klar, was für ein Bild sie abgeben musste, so aufgewühlt und von Gefühlen überwältigt. Sie hatte Tränen in den Augen, und ihr Gesicht war rot und erhitzt. Sie senkte den Kopf und versuchte, sich zu beruhigen. »Mir geht es gut«, erklärte sie schließlich. Die Worte blieben ihr beinahe im Hals stecken. Ihr ging es gut? Nach allem, was sie in dem Zeitungsartikel gelesen hatte? Wie konnte sie sich da je wieder gut fühlen?
Der Mann ging nicht weg, wie sie gehofft hatte. Stattdessen setzte er sich zu ihr auf die Bank. Er atmete ebenfalls flach und unregelmäßig, und ihr fiel auf, dass er mager und ausgemergelt war. Ihr wurde klar, dass es auch ihm alles andere als gut ging.
Er beugte sich vor und schnippte gegen die Zeitung, die immer noch auf
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