Julias Geheimnis
dem Licht, das er einfangen wollte, von den Klippen gemacht hatte, und verglich sie mit dem, was er vor seinem inneren Auge sah. Sein Vater sollte verdammt sein. Verdammt für alles, was er getan hatte und noch tat, um Andrés’ Leben zu ruinieren. Und verdammt dafür, dass er Andrés dazu brachte, sich etwas daraus zu machen.
Die Farbe war richtig. Er nahm sie mit dem Pinsel auf und begann: breite Pinselstriche, goldene Streifen.
Ruby würde später ins Atelier kommen, und er wollte ihr etwas zeigen können. Ruby … In weniger als einem Monat hatte ihre Beziehung einen zentralen Platz in seinem Leben erobert. Freundschaft und der Wunsch, sie zu beschützen, waren zu … ja, wozu geworden? Manchmal hatte er das Gefühl, als hätte es keine Zeit vor Ruby gegeben. Er wollte sie bei sich haben, aber er hatte keine Ahnung, wie lange sie bleiben würde.
Andrés war glücklich mit seinem ersten Farbauftrag. Er vertiefte ihn und gab noch Ocker zu der ursprünglichen Mischung hinzu. Ruby war unabhängig. Manchmal trat sie auf oder probte mit der Band. Dann wieder verschwand sie, um zu recherchieren oder jemanden für eine Story zu interviewen. Gelegentlich sperrte sie sich in dem Cottage ein, das er für sie gefunden hatte, um an einem Artikel zu arbeiten, sodass Andrés gezwungen war, ins Atelier zu gehen und zu malen wie noch nie zuvor. Und manchmal ging sie an einen anderen Ort, in ihrem Inneren, an den er ihr nicht folgen konnte. Er wusste, was – oder wen – sie suchte. Aber er wusste auch aus Erfahrung, dass es einen nicht immer glücklich machte, die Wahrheit zu entdecken. Manchmal zerstörte sie das Gleichgewicht, den Status quo, diese empfindliche Balance des Lebens. Manchmal konnte die Wahrheit auch wehtun.
Er ließ etwas von der neuen Farbe in das Bild einfließen und dachte wieder an seinen Vater. Es war kein Zufall, dass diese Landschaft ihn so lebhaft an die Farben zu Hause auf der Insel seiner Geburt erinnerte; an die Lagune in der Bucht, die Playa del Castillo, den Surfstrand mit seinen umbrabraunen Klippen und dem tiefen, tiefen Sand. Wie oft war er mit Isabella an diesem Strand spazieren gegangen? Ihre Füße waren in diesen Sand eingesunken, und Wasserwirbel hatten ihre Spuren wieder weggewaschen. Sie hatten nach Schätzen gesucht wie ihre Vorfahren: Netze, Treibholz und Muscheln. Zu Hause … Andrés dachte darüber nach. War England inzwischen sein Zuhause? Konnte es das jemals werden? Andrés war sich bewusst, dass er das Küstenwachen-Häuschen unter anderem deswegen hatte kaufen wollen, damit er dann sagen könnte, vielleicht zu seinem Vater: »Sieh mich an, ich habe jetzt mein eigenes Leben, ich brauche dich nicht.« Aber das hatte er nie sagen können. Und jetzt das. Diese Nachricht, die ihn mit der Wucht einer Bombe traf.
Die Klippen waren nicht einfarbig, wie sie auf den ersten Blick erschienen. Nichts war das. Ein Künstler musste tiefer blicken; so viel hatte sein Vater ihn zumindest gelehrt. Wie die Wüstenlandschaft der Insel waren diese Klippen vonanderen Schattierungen durchzogen, von dunkleren Farben, grauen, blauen und rostroten Adern. Also: ein blasses Honiggelb für den Anfang und von da aus aufbauen.
Aber Andrés konnte nicht zurück auf die Insel, daher konnte sie auch nicht wieder seine Heimat werden. Im Gegensatz zu Ruby konnte er nicht zurück in die Vergangenheit, um vorwärtszukommen. Er wollte sie alle sehen, natürlich wollte er das. Seine Mutter und Isabella. Aber Andrés vermutete, dass sein Vater ihm nie verzeihen würde. So wie Andrés nie vergessen konnte.
30. Kapitel
FUERTEVENTURA 2010
A uf der Plaza setzte sich Schwester Julia auf die Bank unter dem Orangenbaum, um kurz auszuruhen. Sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Es war heiß, und sie war alt. Der Fußweg von Nuestra Señora del Carmen war gerade lang genug, um ein bisschen an die frische Luft zu kommen und sich etwas Bewegung zu verschaffen. Allerdings war die Hauptstraße ins Dorf mit ungeschnittenen Dattelpalmen bestanden, deren Wedel so tief hingen, dass die spitzen Blätter ständig drohten, einem die Augen auszustechen. Aber es war wichtig, manchmal in die Welt hinauszugehen. War es nicht immer so gewesen? Schwester Julia genoss den Frieden und die Ruhe des aus hellem Stein errichteten Klosters und der umgebenden Wüstenlandschaft. Aber hatte dieses Gefühl heiterer Ruhe jemals wirklich ihr Inneres erreicht?
Ihr Leben war erfüllt. Sie beteiligte sich an den häuslichen
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