Julias Geheimnis
passiert war. Was war geschehen, dass Andrés seinen Vater derart ausblendete?
»Wir sind dankbar für die Publicity durch Echo «, erklärte Steph. »Je mehr Menschen die Ausstellung besuchen, umso besser.«
Ruby stand auf und schüttelte Steph die Hand. »Ich werde mich bemühen, sie auch landesweit publik zu machen«, sagte sie. »Überlassen Sie das nur mir.«
Zurück im Cottage legte sie eine Jazz- CD auf und kochte sich eine Tasse Tee. Sie nahm Viviens Brief, der immer nochauf dem Kaminsims stand, wenn auch auf einem anderen als vorher. Ein neuer Song begann. »Why Shouldn’t We Fall in Love?« Die Musik hüllte sie ein. Es war einer ihrer Lieblingssongs. Sie betrachtete die Handschrift auf dem Umschlag. Ruby …
Sie erinnerte sich an einen Abend vor langer Zeit, als sie ein kleines Mädchen von vielleicht zehn Jahren gewesen war. Es war ein paar Wochen vor Weihnachten. Ihr Vater hatte einen sehr einträglichen Auftrag erhalten: Er sollte Esszimmermöbel für ein Paar in Uplyme bauen. Er kam aufgeregt nach Hause und hatte eine Flasche Champagner unter dem Arm.
»Ich habe den Auftrag«, sagte er zu Vivien. Seine Augen strahlten, als er ihr die Flasche zuschob, seinen Schal löste und den Mantel auszog.
»Das dachte ich mir«, antwortete sie lachend. Ruby begriff, dass sie Geldsorgen gehabt hatten und dieser Auftrag dazu beitragen würde, diese Sorge zu lindern, und das kurz vor Weihnachten.
Er hatte Backfisch und Pommes frites gekauft, Rubys Lieblingsessen, und sie aßen zusammen und tranken dazu den gekühlten Champagner. Die Bläschen stiegen ihr in die Nase und brachten sie zum Kichern.
Nach dem Abendessen ging sie nach oben, um zu baden, und da hörte sie es. Ihre Eltern hatten ihre Musik aufgelegt, und sie durchdrang das ganze Haus, üppig, dunkel und melodisch.
Sie drang durch die Wände und schien sogar das Badewasser zum Vibrieren zu bringen. Ruby hörte, wie das Saxofon die Tonleiter hoch- und runterkletterte, manchmal in kleinen Schritten, sodass es klang, als ob es außer Atem wäre. Dannwieder malte es einen Teppich aus langen, ausgedehnten Tönen, so flüssig wie der ebenerdige Swimmingpool, den die Eltern von Rubys Freundin Jasmin in ihrem schicken Haus auf dem Hügel eingebaut hatten. So weich.
Und da geschah etwas Seltsames mit Ruby. Sie schloss die Augen und spürte es. Sie wollte auch mit dieser Musik steigen und fallen. Jazz …
Nach dem Baden war sie im Bademantel nach unten gegangen, um die heiße Schokolade zu trinken, die ihre Mutter ihr immer kochte. Und da tanzten sie, ihre Eltern. Ihre Mutter hatte den Kopf an die Schulter ihres Vaters gelegt, seine eine Hand lag auf ihrer Taille. Die andere lag in ihrem Nacken, dort, wo ihr dunkles Haar lockig über das Band der Schürze fiel, die sie immer noch trug. Ihre Mutter hatte die Augen geschlossen. Ihre Mutter …
Fasziniert sah Ruby ihnen zu. Dann schlug Vivien die Augen auf, entdeckte sie und zog sie wortlos in ihren Kreis. Ruby bewegte und wiegte sich mit ihnen. Die Musik war wie Magie, schwarze Magie. Und das Saxofon hatte sich geschmeidig und sinnlich in ihr Herz und ihre Seele geschlichen, obwohl sie erst später herausfand, wie das Instrument hieß.
Ruby seufzte und fuhr mit den Fingern über den Kleberand des Umschlags. Warum? Wieso hatten ihre Eltern nicht den Mumm gehabt, ihr von Angesicht zu Angesicht zu sagen, dass sie nicht ihre leibliche Tochter war? Sie stellte den Brief wieder auf das Kaminsims und wandte sich ab.
»Vielleicht solltest du es aufgeben«, hatte Mel kürzlich gemeint, als Ruby im Laden vorbeigeschaut hatte, um hallo zu sagen. Mel wirkte ein wenig munterer, und Ruby fragtesich, ob Stuart sie nun nicht mehr so unter Druck setzte. Aber auch wenn es so war, konnte sie sich des Gedankens nicht erwehren, dass es nur eine Frage der Zeit war, bevor das Thema wieder aktuell werden würde.
»Was denn aufgeben?« Ruby hatte eine Deerstalker-Mütze aufgesetzt. Sie kam gern in den Laden und probierte Hüte auf. Aber sie wusste, was Mel meinte.
»Die Suche nach Laura«, sagte Mel.
Sie hatte gut reden. »Ich kann nicht.« Sie konnte das ebenso wenig, wie sie den Brief öffnen konnte. Sie musste ihre Wurzeln finden, Kontakt zu dem Mädchen aufnehmen, das sie ausgetragen, sie zur Welt gebracht hatte … Und weggegeben , flüsterte ihr Herz. Ja, okay, und sie weggegeben hatte. Sie wollte auch etwas über ihren Vater erfahren. Wer war er? Wusste er überhaupt von ihrer Existenz? Sie wusste, was Mel
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