Julias Geheimnis
meinte. Warum alles aufrühren? Aber sie musste die Gründe herausbekommen, alle Puzzlestücke zusammensetzen und ein Bild schaffen, durch das ihr Leben zu einem sinnvollen Ganzen wurde. Sonst würde sie nie dieses Gefühl von Vollständigkeit haben, nach dem sie suchte.
Ihr Tee war kalt geworden. Ruby ging zurück in die winzige Küche, um neuen zu machen. Sie dachte an ihr Interview mit Steph Grainger. War Andrés wirklich so gut? Der Gedanke gefiel ihr. Gestern Abend war sie ins Atelier gegangen, wo er an den Bildern arbeitete, die er ausstellen wollte, und hatte sie sich angesehen. Sie liebte besonders sein Bild von Chesil Beach, das das Herzstück der Ausstellung werden sollte. Es stellte diejenige der Klippen aus geschichtetem Gold dar, die sie immer am liebsten gemocht hatte, und den Weg, den sie als Verheißung ihrer Kindheit gesehen hatte. Das war eine Erinnerung, die sie nie loslassen würde, ganz gleich, was sienoch herausfand. Es war ein ganz besonderes Bild von ihrem ganz persönlichen Ort. Dass Andrés es gemalt hatte, bedeutete ihr viel. Er hatte das Gefühl, das für sie damit verbunden war, genau eingefangen.
Ruby ließ den Teebeutel in die Tasse fallen und goss kochendes Wasser auf. Niemand konnte ihr diese Sonntagnachmittage wegnehmen, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war und mit ihren Eltern an die Pride Bay gefahren war. Sie waren über die Klippen spaziert, und die Sommerbrise hatte ihre Gespräche verweht. Zusammen mit ihrem Vater war sie über die Wellen gesprungen und hatte bei Ebbe Frisbee gespielt. Bildete sie sich das ein, oder waren die Tage damals länger und sonniger gewesen? Sorgloser waren sie auf jeden Fall …
Welche Themen Enrique Marín wohl malte? Ruby wurde klar, dass sie es nicht wusste. Ob die Stile der beiden ähnlich waren? Andrés malte größtenteils Landschaften. Man konnte leicht erkennen, dass seine Leidenschaft den rötlichen Klippen, den grünen Feldern und dem blauen Meer galt, die er mit so köstlichen Farben darstellte, dass man beinahe Lust bekam, sie zu essen. Doch Ruby war neugierig. Ihr wurde klar, dass sie alles über diesen Mann wissen wollte, zu dem sie eine Beziehung hatte. Denn eine Beziehung war es. Die Verbindung zwischen ihnen war fest und stabil, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie stark sie war oder wie anfällig. Why shouldn’t we fall in love? Manchmal hatte sie das Gefühl, nicht genug von ihm bekommen zu können. Wenn Andrés bei ihr war, wollte sie ihn küssen, ihn in sich spüren und Liebe machen, als wäre das Ende der Welt nahe und sie hätten nur noch fünf Minuten Zeit. Sie hoffte, dass es Liebe war und nicht Verzweiflung.
Was für ein Künstler war der berühmte Vater ihres Geliebten? Und wie sah er aus? Ruby nahm ihre Teetasse mit ins Wohnzimmer, schaltete den Laptop ein und googelte. Sie tippte den Namen ein: Enrique Marín. Heutzutage war so etwas fast zu einfach. Bevor es Suchmaschinen gab, waren Recherchen zeitaufwendig gewesen. Aber heute … Ein paar Klicks, und eine ganze Welt öffnete sich. Ruby benutzte immer noch gern Bibliotheken und interviewte Menschen, vor allem persönlich. E-Mails waren nützlich, aber kein Ersatz. Wenn man wirklich mit Menschen redete, kamen auch unvorhergesehene Themen zur Sprache, und die Menschen gaben mehr von sich preis; von ihrem Leben, ihren Gedanken, Erinnerungen. So war es auch bei Steph Grainger gewesen. Es war persönlicher.
Eine Liste von Websites erschien. Ruby scrollte nach unten. Zweifellos hatte ihre Neugier einen Einfluss auf ihre Berufswahl gehabt. Als Journalistin hatte man Gelegenheit, Dinge herauszufinden und allen anderen davon zu erzählen. Es gab einem die Chance, mit dem Finger auf das zu zeigen, was falsch war oder korrupt. Man konnte etwas tun, man hatte eine Stimme. Und wenn die Geschichte an die richtigen Stellen gelangte, würden Menschen sie lesen, die tun konnten, was getan werden musste, um etwas zu verändern. Jedenfalls sah so das Ideal aus. Die Realität war oft banaler. Artikel über Gesundheit und Schönheit, Reisen und Innenarchitektur – und selbst über das Florieren einer örtlichen Kunstgruppe – konnten die Welt nicht verändern. Aber sie konnten die Welt informieren. Und selbst wenn sie Rubys tägliches Brot waren, gab es immer noch die Chance, dass sie eines Tages auf eine anspruchsvollere Geschichte stoßen konnte.
Enrique Marín hatte eine eigene Website. Ruby zögerte kurz, bevor sie sie anklickte. Sie spürte einen Anflug von
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