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Julias Geheimnis

Julias Geheimnis

Titel: Julias Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
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Art ebenfalls brillant.
    Die Porträts waren sehr sensibel ausgeführt. Wahrscheinlich war es eine besondere Gabe, eine Ähnlichkeit einzufangen. Natürlich konnte Ruby nicht feststellen, ob Enrique diese Gabe hatte, aber er besaß jedenfalls die Fähigkeit, Gefühle und Emotionen durch Mienen und Bewegungen auszudrücken, durch ein Neigen des Kopfes, die Stellung eines Mundes, einen Blick. Es war, als wären die Menschen für ihn durchschaubar. Als könne er jemandem in die Augen sehen und seine tiefsten Geheimnisse erkennen. Als könne er durch seine Arbeit die Seele der Menschen entblößen. Rubyerschauerte. Ganz wohl fühlte sie sich dabei nicht; einige dieser Bilder strahlten etwas Sondierendes und beinahe Aufdringliches aus. Sie dachte an den Ausdruck in seinen Augen. Aber es passte, es entsprach seinem Äußeren. Sie hatte eine Antwort auf ihre Frage bekommen: Der Vater war als Künstler ganz anders als der Sohn. Und das freute sie.
    Ruby fand, sie habe genug gesehen, um sich einen Eindruck von Andrés’ Vater zu verschaffen und vielleicht sogar zu verstehen, warum sie sich nicht verstanden, und wollte die Website gerade wegschalten, als ihr ein Bild ins Auge fiel. Sie setzte sich gerade auf und klickte auf das Bild, um es zu vergrößern. Das Gesicht füllte den gesamten Bildschirm aus und wirkte überlebensgroß.
    Es war das Porträt einer jungen Frau von vielleicht Mitte zwanzig. Sie hatte langes, blondes Haar, das ihr offen über die Schultern fiel, und trug eine gerüschte Bauernbluse. Das Bild zeigte nur Kopf und Schultern, sodass davon auch nur der Ausschnitt und die Schultern zu sehen waren. Lange, silberne Ohrringe hingen von ihren Ohren herunter wie Tränen. Enrique hatte sie fast wie eine Blume gemalt. Ein Blumenkind. Auf jeden Fall sah sie so aus: klein und kindlich schmal, mit einem elfenhaften Gesicht und einem sehnsüchtigen Zug um den Mund. Ihre Augen waren blau   – blau und unschuldig. Und sie blickten unglaublich traurig drein.
    Es war Laura. Ruby starrte das Bild lange an. Doch sie wusste mit absoluter Sicherheit, dass dies ein Porträt von Laura war. Offensichtlich besaß Enrique Marín die Gabe, Ähnlichkeiten einzufangen. Und das hatte er auf diesem Bild getan. Es ähnelte dem Foto so sehr. Es war dasselbe Mädchen. Rubys leibliche Mutter. Es dauerte ein bisschen, bis die Wahrheit sich gesetzt hatte. Dann hatte Laura also irgendwann in ihrem Leben, nachdem sie Ruby bei Vivien zurückgelassen hatte, auf Fuerteventura gelebt. Es war erstaunlich. Und doch   …
    Ruby erinnerte sich daran, was Andrés an dem ersten Abend gesagt hatte, als sie zusammen zurück zu ihrem Haus gegangen waren. Hatte er nicht gemeint, es sähe aus, als sei das Foto auf seiner Insel aufgenommen worden? Und dass Fuerteventura genau so ein Ort war, an den es jemanden wie Laura ziehen würde? Damals hatte sie nicht so darauf geachtet. Es war dunkel gewesen, und sie hatte anderes im Kopf gehabt. Sah nicht ein Mittelmeerstrand mehr oder weniger genauso aus wie jeder andere? Aber jetzt   …
    Nachdem sie ein paar Minuten darauf gestarrt hatte, griff Ruby nach ihrer Handtasche und zog das Foto hervor, auf dem Laura die Hippie-Perlen trug, sie auf dem Arm hatte und lächelte. Sie hielt es neben das von Enrique Marín gemalte Porträt. Es war dieselbe Frau. Es war Laura.
    Sie stand auf und suchte die Zeichnung, die Andrés am goldenen Kap von ihr gemacht hatte und durch die sie selbst erst auf die Ähnlichkeit mit ihrer leiblichen Mutter gekommen war. Sie verglich die Zeichnung ebenfalls mit Enriques Porträt. Kein Zweifel, das waren dieselben Gene. Man konnte es an der Form des Mundes und der Augen erkennen.
    Warum hatte sich Laura von Andrés’ Vater malen lassen? Ruby vermutete, dass sie knapp bei Kasse gewesen war. Als aufstrebender Künstler, der Enrique damals gewesen sein musste, hatte er sicher nach Modellen gesucht. Und so, wie die Website vermuten ließ, hatte er viel mit Modellen gearbeitet. Viel hatte er sicher nicht gezahlt. Aber für ein Mädchen wie Laura hätte es ausgereicht, um sich wenigstens Essen für ein oder zwei Tage kaufen zu können.
    Ruby konnte nicht aufhören, die Bilder, die sie vor sich hatte, anzustarren. Drei Gesichter. Aber am stärksten beeindruckte sie, dass Laura auf dem Foto glücklich aussah, während sie auf Enriques Porträt unsagbar traurig wirkte   …

32. Kapitel
    FUERTEVENTURA, SEPTEMBER 2012
    S chwester Julia verließ das Kloster Nuestra Señora del Carmen und ging,

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