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Julias Geheimnis

Julias Geheimnis

Titel: Julias Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
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statt den sandigen Weg zum Dorf einzuschlagen, auf die braunen, samtigen Berge zu, über deren sanften Gipfeln sich Wolken zusammengezogen hatten. Das hatte sie sich in letzter Zeit angewöhnt. Für gewöhnlich ging sie am Nachmittag aus, bevor sie zum Beten in die Kapelle zurückkehrte. Sie war alt, aber sie musste sich Bewegung verschaffen; durch Gottes Gnade konnte sie immer noch mehrere Kilometer am Stück gehen. Und sie hatte begonnen, diesen Pfad einzuschlagen, weil es fast niemand anderer tat. So würde sie keinem der Dorfbewohner begegnen, die sie vielleicht anhalten und ein Gespräch mit ihr anfangen, von ihr gesegnet werden oder sie in der Kapelle aufsuchen wollen würden. Sie wusste, dass sie egoistisch handelte, und das tat ihr leid. Doch zum ersten Mal in ihrem Leben mochte Schwester Julia keine Menschen mehr um sich haben; sie wollte nicht reden, sondern sehnte sich nach Einsamkeit.
    In der Klosterkapelle und sogar in ihrer einfachen Zelle konnte Schwester Julia allein sein. Nonne zu sein, bedeutete, einen großen Teil der Zeit mit Gott allein zu sein. Das gehörte zu den Gründen, warum die Schwestern ermuntert wurden, zu schweigen und kein eitles Geschwätz zu pflegen. Schwester Julia schämte sich beinahe, es zuzugeben, aber heute brauchte sie eine andere Art von Einsamkeit. Sie waralt. Sie hatte ihr Antlitz Gott zugewandt und Ihn gebeten, ihr den rechten Weg zu zeigen. Aber bisher hatte sie kein Zeichen erhalten, und Schwester Julia wusste nicht, was sie tun sollte.
    Und so ging sie in den wüstenhaften campo hinaus. Sie schlug den Weg in die Berge ein, und im Gehen fanden ihre Schritte den Rhythmus ihres Herzschlags. Zeig mir den Weg, zeig mir den Weg   … Diese Landschaft war Schwester Julia immer schon biblisch vorgekommen. Konnte die Natur ihr eine Antwort   – oder wenigstens ein Zeichen   – geben, wenn Gott es nicht tat? Daran glaubte Schwester Julia keinen Moment. Die Landschaft war schließlich Gottes Schöpfung. Er war überall. Lieber glaubte Schwester Julia daran, dass das Einswerden mit der Natur sie ohne die Ablenkung durch die materielle Welt näher zu Gott führen würde. Dass sie vielleicht hier in dieser Wüstenlandschaft, wo sie nur die Berge und den Ozean zur Gesellschaft hatte, endlich Gottes Stimme hören würde.
    Als der Pfad sich gabelte, zögerte Schwester Julia nur kurz und nahm dann den Weg, der zur Küste führte. Manchmal sah sie Autos, die sich auf diesem Pfad durch den campo pflügten. Es waren junge Leute, die mit Surfboards auf dem Dach zum Meer fuhren und nach den großen Wellen suchten. Selten schien es sie zu erstaunen, eine Nonne über die braune, staubige Erde wandern zu sehen, obwohl ein- oder zweimal ein Wagen hielt und ein freundlicher junger Mensch sie ansprach. »Alles okay, Schwester?« Womit sie wahrscheinlich meinten: Wissen Sie, wo Sie sind und was Sie tun, oder sollen wir Sie zurück in die Zivilisation mitnehmen?
    »Mir geht es gut«, antwortete sie dann, was entsprechend ja und nein bedeutet , und dann setzte sie ihre Wanderung fort.
    An diesem Nachmittag wehte ein starker Wind, und die Straße war menschenleer. Sand prasselte gegen Schwester Julias weißen Habit, aber der grobe Stoff war dick, sodass sie fast nichts spürte.
    Als sie den Rand der Klippe erreichte, krachten die aufgewühlten Wogen heftig gegen die schwarzen Felsen unter ihr. Sie betrachtete sie einen Moment lang. Schwester Julia ging nie zum Strand hinunter. Das wäre in einem Habit nicht einfach gewesen, und wahrscheinlich hätte sie es auch nie wieder nach oben geschafft. So stand sie einfach da und bewunderte die Elemente in ihrem rohesten, freiesten Zustand. Für die Freiheit, das hatte sie in Barcelona gelernt, musste man kämpfen. Aber hier auf der Insel existierte sie von Natur aus. Davon war sie überzeugt.
    Als Schwester Julia so dastand und die Szenerie betrachtete, konnte sie ihre eigenen Gedanken nicht mehr hören. Und so überließ sie sich ganz dem Donnern des Meeres, dem Heulen des Windes und dem Kreischen der Möwen. Es war wie Meditation oder Gebet. Das Ziel war, den Geist zu leeren und seine Seele zu befreien. Den Pfad freizuräumen, damit Gott eintreten konnte.
    An dem gewaltigen Himmel hingen weiße und graue Wolkenstreifen, und auf dem blauen Hintergrund dazwischen schien die Sonne und schimmerte auf dem tintenschwarzen Ozean. Das Meer bäumte sich, die Wogen rollten an Land und stiegen höher und höher, bis sie sich senkrecht erhoben, türkis und

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