Julias Geheimnis
schlechtem Gewissen. Es war, als würde sie Andrés hintergehen. Denn ihm hätte das sicherlich nicht gefallen. Aber … Sie zuckte im Geist die Achseln. Er war nicht bereit, offen über seinen Vater zu reden, oder? Warum also sollte sie es nicht selbst herausfinden? Er war ihr Liebhaber. Warum sollte sie nicht mehr über sein Leben erfahren?
Ihr fiel auf, dass das Design der Website professionell und teuer war. Als das Bild des Künstlers erschien, betrachtete sie es aufmerksam. Wahrscheinlich hatte sie erwartet, Andrés’ Züge wiederzuerkennen. Die hohen Wangenknochen vielleicht oder einen gewissen Blick. Aber Andrés musste seiner Mutter ähnlich sehen, denn dieser Mann sah ganz anders aus. Er hatte dunkle Haut – sie war viel dunkler als Andrés’ –, und sein Gesicht war kantiger, seine Augen waren schwarz und finster und hatten einen durchdringenden Blick. Zornige Augen, dachte Ruby. Der Mann hatte einen zornigen Blick. Vom Bildschirm starrte er sie aufgebracht an. Er war eindeutig eine charismatische Persönlichkeit. Und mit dem roten Tuch um den Kopf wirkte er ein wenig wie ein Indianer. Sie lächelte. Er hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit Andrés. Er war aber trotzdem sein Vater. Mit der Fingerspitze berührte sie das Bild. Sein Vater …
Sie klickte die Seite an, die seine Biografie beschrieb. Sie war kurz und bündig und verriet über die Familie nur, dass Enrique mit seiner Frau in dem Dorf Ricoroque lebte, wo er aufgewachsen war. Dann hatte der Erfolg ihn nicht an einen anderen Ort geführt, fiel Ruby auf. Er lebte immer noch im selben Dorf. Ricoroque, wo auch Andrés großgeworden war.
Dann klickte sie auf die Events. Es waren eine ganze Reihe, auch mit Fotos. Darauf war der Künstler zu sehen, wie er zusammen mit anderen Künstlern in einem Atelier im Centro de Arte arbeitete, einem Zentrum, an dessen Gründung vor einigen Jahren Enrique Marín anscheinend auch beteiligt gewesen war. Denn er wollte junge Künstler fördern und einen Raum schaffen, in dem sie arbeiten konnte. Das klang nach einem netten Mann, nach einem großzügigen Mann, einem Mann, der sein Glück mit anderen aufstrebenden Künstlern teilen wollte. Wusste Andrés von dieser Initiative? Dagegen konnte er doch nichts einzuwenden haben.
Da war Enrique als Gastgeber bei einem Essen und Enrique bei einer Ausstellung seiner Arbeiten in der Hauptstadt Fuerteventuras, Puerto del Rosario. Auf diesem Foto trug er immer noch das rote Kopftuch, und jetzt sah Ruby auch, dass sein dunkles Haar an den Schläfen grau wurde. Aber er trug einen schicken Anzug, der erstaunlich gut zu dem Tuch passte, und hielt in der einen Hand ein Glas Champagner und in der anderen eine dünne Zigarre. Er wirkte intellektuell und interessant und auch nicht so zornig, fiel Ruby auf. Nirgendwo waren Bilder seiner Frau oder seiner Tochter zu sehen. Von Andrés gab es auch keine Fotos; aber das war wenig überraschend.
Ein Bild zeigte auch den Künstler bei der Arbeit. Dieses Mal trug er einen blauen Overall und wirkte wild und aufgelöst. Nach der Bildunterschrift zu urteilen, war er bei der Arbeit in seinem heimischen Atelier aufgenommen worden. Und schließlich zeigte eines Enrique beim Eröffnen eines Supermarktes. Dann war er also eine Lokalberühmtheit.
Was war zwischen Andrés und seinem Vater vorgefallen? Warum besuchte Andrés die Insel, auf der er geboren war,nie? Und wenn er Ruby so gern hatte, wie sie glaubte, warum erzählte er ihr nicht davon?
Sie klickte auf »Werk«. Wie gut war Enrique Marín überhaupt?
Verdammt gut, entschied sie, während sie sich durch die Bilder klickte. Seine Spezialität waren offensichtlich Porträts, und es waren viele. Einige waren offensichtlich in dem Atelier gemalt worden, und andere wirkten ungezwungener, so als wären sie am Strand oder irgendwo in einem Café entstanden. Die meisten Atelierporträts zeigten junge Frauen; meist nur Kopf und Schultern, während andere Akte nach lebendem Modell waren. Aber der Künstler hatte sogar in den einfachsten Posen eine gewisse Sinnlichkeit eingefangen. Er schien die Fähigkeit zu besitzen, Erotik auf die unterschwelligste Art, die man sich vorstellen konnte, in der Rundung einer Hüfte oder dem Hügel einer Brust, anzudeuten. Ruby war fasziniert. Aber er schien auch Feuer spucken zu können. Enrique Marín malte gern dramatische Themen, Vulkane und Flammen und sogar biblische Szenen, die ganz anders als seine anderen Arbeiten waren, aber auf ihre eigene
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