Julias Geheimnis
eine Zeit der Hoffnung gewesen. Sie hatten alle geglaubt, dass es einen Neubeginn geben würde und dass nun das Ende der Armut und der Gewalt gekommen sei. Doch so war es nicht gewesen. Für Schwester Julia war es erst der Anfang gewesen.
4. Kapitel
A m folgenden Tag sortierte Ruby den ganzen Vormittag das Hab und Gut ihrer Eltern. Sie arbeitete wie eine Besessene. Aber wenigstens kam sie dadurch nicht zum Nachdenken.
Am Nachmittag kam Mel vorbei. »Ich war zufällig in der Nähe«, sagte sie. »Ich dachte, du hast vielleicht Lust auf einen Spaziergang.«
Wahrscheinlicher war, dass sie nach ihr sehen wollte. Mels Worte hatten ganz beiläufig geklungen, doch Ruby erwischte sie immer wieder dabei, wie sie sie prüfend ansah, wenn sie glaubte, Ruby sehe nicht hin. »Mir geht’s gut, Mel«, sagte sie. »Müsstest du nicht arbeiten?«
Mel zuckte die Achseln. »Ich bin die Chefin. Ich habe mir einen halben Tag freigegeben.«
Das war nur recht und billig. Und auch einen Spaziergang zu machen, klang nach einer guten Idee.
Ruby schnappte sich eine Jacke, warf einen Blick in den Spiegel und fuhr mit den Fingern durch ihr kurzes Haar. So konnte sie nach draußen gehen. Arm in Arm liefen sie die kleine Straße entlang. Endlich war es richtig Sommer geworden. Der Wind war wärmer, und wenn die Sonne hinter den Wolken hervorkam, wurde es richtig heiß. Ruby und Mel gingen zum Meer.
»Wie läuft es?«, fragte Mel auf dem Weg zur Pride Bay. »Du siehst erschöpft aus.«
»Danke, Mel.« Aber sie hatte ja recht. Heute Nacht hattesie kaum geschlafen. Und nachdem sie endlich doch eingeschlummert war, war sie schon im Morgengrauen wieder aufgewacht und hatte kerzengerade und in kalten Schweiß gebadet im Bett gesessen. Sie hatte wieder von dem Unfall geträumt. Hatte das Krachen von Metall auf Metall gehört, das Quietschen von Reifen, den Schrei … Danach war jeder Versuch weiterzuschlafen erfolglos gewesen. Sie war aufgestanden, hatte Tee gekocht, zugesehen, wie der Tag begann, und nachgedacht. Gab es hier etwas, das sie wissen sollte? Oder war sie hoffnungslos paranoid?
Sie versuchte, sich an alles zu erinnern, was ihre Eltern ihr je über ihre Familie erzählt hatten. Es waren die üblichen Geschichten. Mum und Dad waren beide Einzelkinder gewesen, sodass es keine Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen gab. Mum hatte eine Tante gehabt. Sie war gestorben, als Ruby klein war. Außerdem hatte Mum drei Cousinen, die in Wales lebten und die sie niemals traf. Dad hatte fast eigentlich niemanden mehr gehabt. Die Eltern ihrer Mutter lebten auf einer Insel vor der Westküste von Schottland. Aber Ruby kannte sie kaum. Natürlich waren sie zur Beerdigung gekommen. Ruby hatte gedacht, sie würden ihr vielleicht ein Trost sein, aber beide hatten so alt und verwirrt gewirkt.
»Sie ist unsere Tochter«, hatte ihre Großmutter immer wieder gesagt. »Wie ist es möglich, dass sie vor uns geht?«
Ruby hatte nicht gewusst, was sie zu ihr sagen sollte. Ihre Mutter hatte die beiden in den letzten fünfunddreißig Jahren kaum gesehen, so viel wusste sie. Wahrscheinlich kam so etwas vor. Menschen verloren den Kontakt, Familien zerfielen, und ehe man wusste, wie einem geschah, hatte man sich von seinen nächsten, liebsten Menschen entfremdet. »Es tut mirleid, es tut mir leid.« Das hatte sie ihrer Großmutter mehrmals zugeflüstert, als ob es helfen würde.
»Wie ein Blitz aus heiterem Himmel.« Ihre Großmutter sah sie direkt an. »Ein Blitz aus heiterem Himmel.«
Ruby hatte dabei ein merkwürdiges Gefühl gehabt. Es war, als registriere ihre Großmutter sie gar nicht. Aber sie hatten einander umarmt, und sie hatte ihre Großmutter auf die faltige Wange geküsst. Trotzdem schien die alte Dame sie kaum wahrzunehmen. Sie sah sie nur ausdruckslos an. »Vivien, Vivien«, murmelte sie, bis Rubys sanfter, weißhaariger Großvater schließlich ihre Hand nahm und sie wegführte. »Ist ja gut, Liebes. Na, na, Liebes.«
Sie konnte sich kaum vorstellen, dass ihre Eltern ein großes, dunkles Geheimnis gehabt hatten. Aber vielleicht hatte jeder Geheimnisse. Und manche Menschen entschieden sich dafür, sie nie zu verraten.
»Hast du etwas von James gehört?«, erkundigte sich Mel.
Ach ja, James. Ruby sah hinüber zu den Klippen. Die Mehlschwalben waren zurückgekehrt. Sie sah zu, wie sie in alle Richtungen herabschossen, dahinglitten und ihren ganz besonderen Tanz aufführten. »Er hat ein paar Mal angerufen.« Ruby hatte allerdings nicht gewusst,
Weitere Kostenlose Bücher