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Julias Geheimnis

Julias Geheimnis

Titel: Julias Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
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Holzschrank für die wenigen Kleidungsstücke, die sie besaß, und ein schmales Bett. Sie brauchte nur eine dünne Decke, denn hier auf der Insel wurde es nicht kalt. Einen Spiegel gab es nicht. Wozu hätte sie auch einen gebraucht? Gott konnte in sie hineinsehen und ihre tiefsten Gedanken erkennen, und nur darauf kam es an. Sie besaß allerdings einen Schreibtisch, an dem sie ihre Bibel und ihr Gebetbuch aufbewahrte. Er stand vor einem Bogenfenster, durch das man auf den Hof blickte. Der Schreibtisch hatte eine Schublade, die sie immer abgeschlossen hielt. Darin verbarg Schwester Julia ein paar kostbare Besitztümer. Sie stammten größtenteils ausihrem alten Leben, aus der Zeit, bevor sie die Gelübde abgelegt hatte, aber auch aus ihrer Zeit hier auf der Insel. Dazu gehörten der Ehering ihrer Mutter, ein paar Familienfotos, ein Mustertuch, das sie als Mädchen gestickt hatte, und ein paar Gegenstände, Geschenke von Menschen, denen sie im Lauf der Jahre geholfen hatte.
    Hier   – genauso wie in Santa Ana   – gaben die Schwestern Menschen, die Orientierung suchten, manchmal Ratschläge. Schwester Julia hatte sich die Rolle der spirituellen Ratgeberin nicht gewünscht, sie war ihr einfach zugewachsen. Sie hörte Menschen zu, die von Familienstreitigkeiten erzählten, von verlorener Liebe und verschwundenen Söhnen und Töchtern. Manche Männer spielten oder tranken   – es gab immer Männer, die spielten oder tranken   –, und manche Frauen hatten ihre Tugend aus dem Blick verloren. Und es gab andere Dinge, dunklere Dinge.
    Sie betastete die zarte, weiße Spitzentischdecke, die sich wie feinste Gaze anfühlte. Eine Frau aus dem Dorf hatte sie ihr geschenkt. Schwester Julia erinnerte sich noch an den Ausdruck in den dunklen Augen der Frau, während sie ihr ihre Geschichte erzählte; sie spürte noch immer ihre Verzweiflung. Schwester Julia hatte oft für sie gebetet. Noch ein Mensch, der verletzt worden war, der nicht wusste, wohin er sich wenden sollte. Es war eine Geschichte von Täuschung und Enttäuschung gewesen. Doch Schwester Julia spürte, dass es noch mehr gab, Dinge, die die Frau nicht erzählte. Sie fühlte es. Es lag verborgen hinter ihren traurigen Augen. Und Schwester Julia machte sich Gedanken. Gab es noch einen anderen Grund dafür, dass ihr Mann sich so verhalten hatte? Steckte hinter der Geschichte der Frau mehr, als sie erzählen konnte?
    »Seien Sie ganz ruhig, meine Tochter«, hatte sie zu der Frau gesagt und ihr sanft die Hand auf den Kopf gelegt. »Vertrauen Sie auf Gott. Er wird Ihnen den Weg zeigen.«
    Gott hatte ihr geholfen, anderen zu raten. Er tat es immer noch. Schwester Julia betete, und Er schickte ihr Antworten, sodass die Worte   – die richtigen Worte   – über ihre Lippen kamen, wenn Menschen ihren Rat erbaten. Schwester Julia war nur ein Gefäß, Gottes Gefäß. Konnte man sich ein größeres Geschenk wünschen? Die Antwort auf diese Frage war: Noch stärker sehnte sie sich nach Frieden.
    Ganz hinten in der Schublade ihres Schreibtisches lag das Buch. Das Buch mit den Namen. Schwester Julia berührte den Einband, der unbeschriftet war und keinen Hinweis darauf gab, was darin stand. Sie stieß einen tief empfundenen Seufzer aus, in dem all der Schmerz, all die Gefühle zu liegen schienen, deren Zeugin sie im Lauf so vieler langer Jahre geworden war. Der Seufzer befreite sie allerdings nicht. Auch die bloße Lektüre des Buchs würde einem keine Ahnung davon vermitteln, was geschehen war. Es enthielt nur Namen und Daten. Sie standen alle in dem Buch. Schwester Julia hatte den Beweis. Sie hatte alles aufgeschrieben.
    Jeden Tag fragte sie Gott um Rat. Es gab keinen Tag, an dem sie sich nicht danach sehnte, endlich ihre Geschichte zu erzählen, endlich Buße zu leisten und etwas zu tun, das diesen Menschen irgendwie half, obwohl sie es nicht wiedergutmachen konnte   – nichts konnte das. Aber Hilfe brauchten sie, das wusste Schwester Julia. Solche Dinge konnte man nicht ewig unter den Tisch kehren. Geheimnisse sind wie ein Furunkel unter der Haut: Sie wachsen und eitern, bis man sie aufschneiden muss. So war es nun einmal auf der Welt.
    Schwester Julia schlug das Buch auf und las die ersten Namen. »Möge Gott uns vergeben«, flüsterte sie. So viele Namen. So viele Tränen. So viele Geheimnisse. Sie schlug das Buch wieder zu und legte es zurück in die Schublade. Eines Tages   …
    Sie dachte an das Ende des Bürgerkriegs   – denn damals hatte es begonnen. Es war

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