Julias Geheimnis
was sie mit ihm reden sollte. Es kam ihr mittlerweile fast so vor, als gehöre er zu einem anderen Leben, zu einem Leben, das nichts mehr mit ihr zu tun hatte. »Es ist schwierig. Wir haben nicht richtig geredet.« Jedenfalls nicht über etwas Wichtiges. Sie hatten über das Wetter gesprochen – in London war es wärmer –, über die Wohnung – er hatte sich eine Putzfrau gesucht – und darüber, was er an diesem Tag auf der Arbeit getan hatte – er hatte zwei neue Klienten getroffen und sich auf ein bevorstehendes Mitarbeitergespräch vorbereitet. Aberdas war auch schon alles gewesen. Beide Male hatte er das Gespräch mit der Frage beendet, wann sie zurückkommen werde, und beide Male hatte sie gesagt, sie wisse es nicht. War er erleichtert darüber? Fehlte sie ihm? Sie hatte keine Ahnung.
Sie passierten den Hafen und kamen an der alten Kapelle vorbei. »Und? Fährst du zurück?«, fragte Mel.
Die Eine-Million-Dollar-Frage. Ihre Schritte knirschten auf den Steinen. Die Klippen auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht waren hoch und steil, und der Schaum der einlaufenden Brandung lief wie ein Saum am Chesil Beach entlang und auf die Fleet-Lagune und Portland Bill zu. Die Wellen hinterließen nur ein paar Augenblicke lang ihre Spur auf den winzigen Kieselsteinen; dann wurden sie aufgesogen und waren verschwunden. »Noch nicht«, sagte Ruby.
Sie näherten sich einer Reihe von Fischerhütten, die direkt am Strand standen. Das letzte Haus war das Cottage der Küstenwache. Zu verkaufen per Auktion, verkündete ein Schild davor. Ruby blieb stehen. Sie sah Mel an, und Mel erwiderte ihren Blick. »Noch nicht?«, hakte Mel nach.
»Na ja …«
Ruby hatte dieses kleine, schlichte Cottage immer gemocht. Es war aus dem gelben Stein ihrer Heimat gebaut und hatte vorne vier quadratische Fenster, die alle aufs Meer hinausblickten. Die salzige Brise hatte zwar ihre Narben in dem Stein hinterlassen, aber das Cottage hatte dem Wind all die Jahre standgehalten und aller Unbill getrotzt.
»Das ist ein wirklich hübsches Cottage, findest du nicht auch?«
»Warum rufst du den Makler nicht mal an«, schlug Mel vor.
Ruby zögerte, lauschte. Das Donnern der Brandung am Strand war so machtvoll, dass es bis in ihr tiefstes Inneres zu dringen schien. Vor dem Häuschen lag Chesil Beach wie ein rotbrauner Hügel aus kleinen Kieseln. Hinter dem Cottage schlängelte sich der Weg nach Clearwater Beach die mit grünen Grasbüscheln bewachsene, sandige, zerklüftete Klippe hinauf. Die stark erodierte Klippe sah aus, als bestehe sie aus lauter aufeinandergestapelten Goldbarren. Es war eine Landschaft wie in einem Märchen. Es war ihr Märchen, wurde ihr klar, die Landschaft ihrer Kindheit. War es das, was sie wieder zurückholen wollte, ihre Kindheit?
»Ich habe einen Brief gefunden, Mel«, sagte sie.
»Einen Brief?« Mel blinzelte. »Was für einen Brief?«
»Ich zeige ihn dir.« Ruby zog den Brief des Arztes, in dem von der Unfruchtbarkeit ihrer Eltern die Rede war, aus der Handtasche und reichte ihn Mel.
Mel runzelte die Stirn. Als sie zu Ende gelesen hatte, sah sie auf. »Und? Was denkst du, Ruby?«
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«
Mel gab ihr den Brief zurück. »Um ehrlich zu sein, verstehe ich nicht, worüber du dir Gedanken machst«, meinte sie.
Ruby erschien das dagegen ziemlich offensichtlich. »Erinnerst du dich noch an diese Gegenstände in der Schuhschachtel?«, fragte sie. »Diese Fotos? Das Babymützchen?«
»Natürlich.«
»Nun ja …« Musste sie es wirklich aussprechen? Konnte es eine Verbindung zwischen dem Brief und dem Inhalt der Schuhschachtel aus dem Kleiderschrank geben? Sie wollte das nicht glauben. Es schien unmöglich zu sein. Aber … Sie musste immer wieder an dieses Foto von der jungen Fraumit den langen blonden Haaren denken. Und an das Baby in ihren Armen.
»Ach, Ruby, du bist erschöpft und nimmt dir alles viel zu sehr zu Herzen.« Mel legte den Arm um sie. »Jetzt komm schon. Dieser Brief hat gar nichts zu bedeuten. Wie könnte er auch?«
»Keine Ahnung.« Unfruchtbarkeit ungeklärter Ursache . Das klang nicht so technisch wie die medizinischen Formulierungen heute. Aber es waren auch ganz andere Zeiten gewesen; die künstliche Befruchtung hatte seitdem gewaltige Fortschritte gemacht. Dennoch hatten ihre Eltern Probleme damit gehabt, ein Kind zu zeugen, große Probleme. Was war sie also? Eine Art Wunderbaby? Wieso hatten sie ihr dann nicht davon
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