Julias Geheimnis
mich danach, ihn wiederzusehen.«
Ruby nickte. Irgendwann musste er schließlich hierher zurückkommen, und sei es auch nur wegen seiner Schwester. »Was ist passiert, Isabella?«, fragte sie. »Warum ist er nie zurückgekehrt?« Plötzlich wurde ihr klar, dass es bei dieser Reise nicht nur um die Suche nach Laura ging; vielleicht war es nie so gewesen. Es ging auch um Andrés und den unbekannten Grund, aus dem er fortgegangen war.
Sie ließen das Dorf hinter sich. Vor ihnen erstreckte sich ein Strand aus blassgoldenem Sand, und dahinter lag das blaue Meer. Die Küste schien sich in die Unendlichkeit fortzusetzen. Ruby blinzelte. Das hier sah der Szenerie auf dem Foto schon ähnlicher.
»Es hat einen Streit gegeben«, erklärte Isabella leise. »Zwischen Andrés und unserem Vater.«
»Das muss aber ein schlimmer Streit gewesen sein«, meinte Ruby. In Familien wurde immer gestritten. Dahinter musste mehr stecken.
»Die beiden haben sich nie verstanden.« Isabella seufzte. »Andrés hat immer versucht, unsere Mutter zu beschützen. Manchmal hat er Dinge gesagt, die meinen Vater zornig gemacht haben. Mein Vater ist ein großer Maler.« Ihre Stimme klang jetzt stolz. »Und große Maler haben manchmal …« Sie sagte etwas auf Spanisch und gestikulierte wild.
»Ein großes Ego?« Das hatte Ruby schon aus den Bildern auf der Website geschlossen. Enrique Marín sah nicht aus wie ein Mann, der sich gern widersprechen lässt.
Isabella nickte. »Ich glaube schon.« Sie überquerten die Straße. Ruby hielt die Hand über ihre Augen, um sie gegen die grelle Sonne zu schützen, die heiß herunterbrannte.Ihr Blick wanderte an der Küste entlang bis zu einem Stück Sand, das in Dünen überging. Sie sah schwarze Felsen, die am Ufer aus dem Boden ragten, und halbrunde Formen aus Lavastein, mit denen der Strand übersät war. Es sah genauso aus wie auf den Fotos …
»Das ist alles schon lange her«, meinte Ruby. »Ist es nicht Zeit für die beiden, das hinter sich zu lassen und sich zu versöhnen?« Isabella sah sie betrübt an und schüttelte den Kopf. »Sie kennen meinen Vater nicht«, flüsterte sie.
Nein. Andrés und er waren beide Künstler, aber da endete die Ähnlichkeit auch schon. Offensichtlich war der Vater ganz anders als der Sohn. Trotzdem konnte Ruby es kaum abwarten, ihn zu treffen. »Was hat Andrés zu ihm gesagt?«, fragte sie. »Wissen Sie das?«
»Nicht genau. Sie wollten es mir nicht sagen. Aber mein Vater hat ein furchtbares Temperament.« Sie verdrehte die Augen. »Und Mama hat gesagt, dieses Mal sei Andrés zu weit gegangen. Mein Vater …« Sie warf Ruby einen flehenden Blick zu. »Er hat ihn aus dem Haus geworfen. Und Andrés war so stolz, dass er nie versucht hat zurückzukommen.«
»Sie wissen nicht, worum es bei dem Streit ging?«, erkundigte sich Ruby. Da musste Andrés den großen Enrique Marín wohl an einem wunden Punkt getroffen haben.
»Nein.« Isabella schüttelte ihren dunklen Schopf. »Ich habe erst davon gehört, nachdem er fort war. Nachdem er uns verlassen hatte …« Ihre Augen schimmerten feucht. Doch plötzlich schüttelte sie sich, als wäre ihr klargeworden, dass sie zu viel verraten hatte. »Danach war nichts mehr wie vorher«, erklärte sie.
Sie spazierten über den Sand und gingen zum Ufer hinunter. Isabella zog die Schuhe aus und ließ das Wasser zwischen ihre Zehen fließen, und Ruby tat es ihr nach. Es war sehr erfrischend. Am Strand waren ein paar Menschen unterwegs, und Ruby sah auch einige Schwimmer draußen im Meer, aber der Strand war nicht überfüllt. Sand und Felsen erstreckten sich, soweit das Auge reichte. »Sollen wir ein Stück gehen?«, fragte Isabella. »Ich möchte Ihnen gern etwas zeigen.«
»Natürlich.«
Barfuß gingen sie weiter am Ufer entlang. »Was hat Ihr Vater denn? Ihre Mutter sagte, er sei krank«, erkundigte sich Ruby, obwohl sie es auch für möglich hielt, dass Isabellas Mutter nur eine Ausrede gebraucht hatte, um sie nicht ins Haus zu lassen.
»Er hat Lungenkrebs.«
»Oh, mein Gott.« Isabellas Worte hatten sehr schroff geklungen. Doch als Ruby sich ihr zuwandte, sah sie, dass sie die Tränen kaum zurückhalten konnte. Sie berührte Isabella am Arm. »Das tut mir so leid«, sagte sie. »Ich hatte ja keine Ahnung.« Ihr kam ein Gedanke. »Weiß Andrés davon?«, flüsterte sie.
» Sí. Er weiß es.«
»Er weiß Bescheid?« Ruby war schockiert. »Aber …« Warum in aller Welt hatte er ihr so etwas Wichtiges nicht
Weitere Kostenlose Bücher