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Julias Geheimnis

Julias Geheimnis

Titel: Julias Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
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    Andrés griff zur Metallsäge und drehte das Sägeblatt so, dass die Zacken nach außen zeigten. Er sägte das Rohr durch, und das durchdringende Kreischen von Metall auf Metall erfüllte die Luft.
    Er dachte an seinen Vater, der in seinem Atelier all diese Frauen empfangen hatte, von denen viele noch blutjunge Mädchen gewesen waren. Er hatte gesehen, wie sie zum Atelier gekommen waren, allein oder manchmal auch zu zweit, kichernd und miteinander flüsternd. So beeindruckt waren sie von dem Mann gewesen, so ehrfürchtig hatten sie zu dem großen Künstler aufgesehen. Er hatte das Gesicht seines Vaters gesehen, wenn er sie anschaute, der lüsterne alte Bock. Und er hatte auch den Blick seiner Mutter gesehen, obwohl sie in solchen Momenten immer hinter das Haus ging oder das Gesicht abwandte. Wie oft hatte Enrique Marín seine Frau gedemütigt? Unzählige Male.
    Andrés hatte sich nach oben ins Atelier geschlichen, wenn sein Vater in die Acorralado-Bar ging, und gesehen, was der alte Bastard getan und wie er sie gemalt hatte. Die Leute hielten ihn für einen großen Mann, doch manche Menschen benutzten ihre Gaben und ihre Größe, um Macht über Schwächere auszuüben. Das war Enriques Handwerkszeug. Er besaß etwas   – vermutlich nannte man es Charisma   –, das andere dazu brachte, sich seinem Willen zu beugen, und aufgrund dessen er manchmal sogar wusste, was man dachte. Aber wozu benutzte er es?
    Enrique Marín besaß großes Talent. Aber als Künstler hatte er zu viele Eisen im Feuer.
    »Warum machst du dem kein Ende?«, hatte Andrés seine Mutter mehr als einmal gefragt. »Zeig ihm, dass er so nicht weitermachen kann.«
    Seine Mutter hatte den Kopf geneigt. »Er ist Künstler, mein Sohn«, sagte sie.
    Künstler! »Hast du gesehen, was er zeichnet?«, fragte er sie. »Hast du gesehen, was er malt?« Aktzeichnen konnte sehr schön sein. Aber nicht bei ihm. Manches davon wirkte so billig, dass es Andrés kalt über den Rücken lief.
    An diesem Punkt pflegte seine Mutter einen Schlussstrich zu ziehen. »Ich will es nicht sehen!«, gab sie heftig zurück. »Ich will es nicht wissen.«
    »Aber Mama«, hatte er sie angefleht. »Es ist nicht richtig, dass du den Kopf in den Sand steckst, verstehst du? Es ist nicht richtig, dass du zulässt, dass das weitergeht.«
    Sie hatte seinen Einwand weggewischt. »Er ist ein großer Mann«, sagte sie. »Und ein großer Mann hat immer auch eine dunkle Seite.«
    Andrés glaubte das keinen Moment lang. Sein Vater hatte immer ein hitziges Temperament gehabt, und es war immer schwierig gewesen, seinen Ansprüchen zu genügen, aber mit seinem Erfolg hatte sich alles verändert. Er war ihm zu Kopf gestiegen, hatte ihn auf die Idee gebracht, dass er jemand war,der er nicht war. Er hatte ihn seine Macht, andere zu lenken, gebrauchen lassen, um zu bekommen, was er wollte.
    Andrés musste hilflos zusehen, wie seine Mutter ständig gedemütigt wurde. Ihr Mann nahm sie nicht mit zu Ausstellungen, Vernissagen oder Partys. Warum sollte er auch, solange immer eine Jüngere oder Schönere da war, die an seinem Arm und an seinen Lippen hing? Wieso sollte er die Frau mitnehmen, mit der er verheiratetet war und die ihm zwei Kinder geboren hatte? Andrés kochte dann immer vor Wut. Aber was konnte er tun, um etwas daran zu ändern?
    Immer wieder fragte er sich, ob er die Mädchen wirklich nur zeichnete und malte. War das möglich? Andrés war entschlossen, seinen Vater zu erwischen.
    Eines Nachmittags kehrte Andrés ins Haus zurück, obwohl er bis zum Abendessen draußen bleiben durfte. Es war der Einkaufstag seiner Mutter, und sein Vater war allein im Atelier.
    Aber natürlich war er genau das nicht.
    Andrés lief zurück in die Casa Azul und schlich auf Zehenspitzen hinauf zum Atelier seines Vaters. Er hörte ihre Stimmen, und er konnte erkennen, dass drinnen nicht nur gemalt wurde. Aber er musste sich sicher sein, daher öffnete er die Tür einen Spaltbreit und spähte hinein. Er erkannte Stella, eines der Modelle seines Vaters. Sie war gerade achtzehn und hatte einen Freund im Dorf, mit dem Andrés manchmal Fußball spielte. Enrique Marín spielte in der Acorralado-Bar Domino mit dem Vater des Mädchens; er war einer seiner besten Freunde.
    Die beiden waren nackt. Sie lag auf der Chaiselongue, und Enrique kniete vor ihr und fütterte sie mit Orangenspalten. Er ließ sie zwischen ihre feuchten, geöffneten Lippen fallen.Mit der anderen Hand liebkoste sein Vater ihre Brust. Sie redeten und

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