Julias Geheimnis
nicht zulassen, dass Ruby sich Sorgen um sie machte. Aber das tat sie trotzdem.
Ruby zog die Fotos aus der Handtasche. Nichts hier wies darauf hin, dass es sich um denselben Ort handeln könnte. Der Strand auf den Fotos war blassgold, dieser war steinig und grau; das Strandhaus war aus orangefarbenem Stein gebaut, während die Häuser hier größtenteils in Weiß und Blau gehalten waren. Trotzdem …
Die Sonne stand tief am Himmel, und Ruby merkte auf einmal, dass sie hungrig war. Im Flugzeug hatte sie nichts gegessen, und heute Morgen war sie zu aufgedreht zum Frühstücken gewesen. Schließlich war es möglich, dass Laura hier lebte. Es war sogar denkbar, dass Ruby ihr in den nächstenpaar Tagen begegnen würde. Vielleicht konnte sie mit ihrer Mutter reden und herausfinden, wer ihr Vater war. Alles war möglich. Bei dem Gedanken hatte sie beinahe das Gefühl, wieder ein Kind zu sein. Sie durfte das Atmen nicht vergessen …
Am Ende der Straße, wo man über die Felsen des alten Hafens und das tintenblaue Meer hinausblickte, stand eine weitere Skulptur. Sie war aus Bronze und stellte ein Boot dar, das von zwei Fischern auf den Strand geschoben wurde. Was aber noch wichtiger war: Am Hafen gab es eine Tapas-Bar mit Bier, frischen Krabben und Paella. Sie ging dorthin.
Andrés und Laura … Es erschien unglaublich, dass gleich zwei Menschen, die so eng mit Rubys Leben verbunden waren, hier gelebt hatten, dachte sie bei sich. Dass sie vielleicht beide einmal hier gesessen und Krabben gegessen hatten, wie sie selbst jetzt, und über den alten Hafen hinausgesehen hatten wie die Fischerfrau dort oben auf dem Hügel. Dass sie von hier aus zugeschaut haben sollten, wie die Sonne hinter dem Meer am Horizont unterging, so wie sie jetzt. Die Landschaft ringsum erglühte in rosafarbenem, rotem und gelbem Licht, und das Meer war dunkel wie die Nacht. Hinter ihr leerten sich die Tische, doch Ruby saß weiter da, beobachtete den Sonnenuntergang und lauschte traumverloren dem Rhythmus der Wogen.
Als sie endlich die Rechnung bezahlte, nahm der Kellner –ein junger Bursche und wahrscheinlich der Sohn oder Neffe des Besitzers – das Geld entgegen und sprach sie in fast perfektem Englisch an.
Ruby versuchte ihr Glück. »Wissen Sie zufällig, wo Enrique Marín lebt?«, fragte sie. »Der Künstler?«
» Sí , aber natürlich.« Er schien erstaunt, dass sie es nichtwusste. »Gehen Sie diese Straße entlang und biegen sie nach rechts ab. Es ist das blaue Haus, la Casa Azul . Im Vorgarten stehen ein Springbrunnen und ein Johannisbrotbaum. Sie können es gar nicht verfehlen.«
»Danke.« Ruby lächelte und gab ihm ein großzügiges Trinkgeld. Die Menschen hier schienen freundlich zu sein; der Ort hatte eine überaus positive Ausstrahlung. Nun wusste sie, wo Enrique Marín lebte.
Morgen früh würde Sie als Erstes dort hingehen.
Sie fand das blaue Haus genau da, wo der junge Mann gesagt hatte. Ruby blieb kurz davor stehen und stellte sich das bescheidene, traditionelle Gebäude vor, das es einmal gewesen war. Andrés hatte es ihr genau beschrieben: weiß getünchter Stein, blaue Akzente, winzige Fenster, dahinter eine kleine Landwirtschaft. Heute wirkte die Casa Azul ziemlich prächtig. Das Haus war drei Stockwerke hoch, von denen das oberste fast vollständig aus Glas bestand und mit Terrassen, blauen Kacheln und etwas, das wie ein Pool aussah, bestückt war. Und im Vorgarten standen der schattenspendende Johannisbrotbaum und der Springbrunnen, von denen der Junge gesprochen hatte – Letzterer eher eine sehr dramatische, aus Stahl geschaffene Wasserlandschaft. Dies war eindeutig das Zuhause eines Künstlers, und zwar eines erfolgreichen.
Ruby holte tief Luft, richtete sich gerade auf und öffnete das schmiedeeiserne Tor, das ebenfalls blau gestrichen war. Sie ging den Weg entlang, der zur Haustür führte, klopfte und wartete.
Kurz darauf öffnete sich die Tür, und eine Frau von ungefähr siebzig Jahren stand da. Sie wirkte ganz und gar nichtwie die Frau eines erfolgreichen Künstlers, sondern war klein und unscheinbar und trug eine Schürze über einem einfachen dunkelblauen Kleid. Ihr dunkles Haar war von Grau durchzogen und aus einem gebräunten, faltigen Gesicht zurückfrisiert. Sie trug weder Schmuck noch Make-up, und ihre Augen blickten freundlich, aber argwöhnisch drein. Ruby musterte sie aufmerksam, konnte aber keine Ähnlichkeit mit Andrés entdecken. Dennoch musste es seine Mutter sein,
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