Julias Geheimnis
oder?
»Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Sprechen Sie Englisch?«
Daraufhin sah die Frau noch misstrauischer drein. » Sí «, antwortete sie. »Ein wenig.« Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und sah Ruby mit festem Blick an. »Was wünschen Sie?«
Ruby vermutete, dass sie als Frau eines berühmten Künstlers in eine ganz andere Welt katapultiert worden war, ob sie gewollt hatte oder nicht. Sicher hatte sie lernen müssen, sich in anderen Sprachen zu verständigen, sich zu offiziellen Gelegenheiten schick anzuziehen und die Rolle der Künstlergattin zu spielen. Sie sah jedoch nicht so aus, als hätte sie es genossen.
»Ich hatte mich gefragt, ob es möglich wäre, mit Enrique Marín zu sprechen«, erklärte Ruby. »Ihr Mann?«
»Bedaure.« Das klang wie eine Standardantwort. »Mein Mann ist krank. Er bittet darum, nicht gestört zu werden.« Sie wollte die Tür wieder schließen.
Wie konnte Ruby ihr klarmachen, dass sie nicht nur ein Fan oder eine Art Kunst-Groupie war? »Ich bin auf der Suche nach meiner Mutter«, fügte sie schnell hinzu, um sie aufzuhalten.
Es wirkte. »Ihre Mutter?« Reyna Marín starrte sie an.
Ruby nickte. »Ich glaube, Ihr Mann hat sie einmal gemalt!«, sagte sie. »Vor vielen Jahren.«
Unerklärlicherweise verdüsterte sich Reyna Maríns Miene. Sie wirkte aufgewühlt, fast zornig. »Bedaure«, wiederholte sie. »Diese Zeiten sind vorbei. Es geht ihm nicht gut …« Die Tür schloss sich weiter.
»Aber …« Erneut klopfte sie an die Tür. »Bitte …« Sie hatte den weiten Weg nicht gemacht, um sich abwimmeln zu lassen, ohne dass sie den Mann überhaupt gesehen und ihm die Frage gestellt hätte.
Dann hörte Ruby Schritte, die von hinten um das Haus herumkamen. Es war eine Frau ungefähr in ihrem Alter, die in einiger Entfernung zu Ruby stehen blieb.
»Tut mir leid, wenn meine Mutter unhöflich war«, sagte sie in perfektem Englisch. »Aber sie hat recht, meinem Vater geht es heute nicht gut genug, um Besucher zu empfangen.«
»Isabella?«
Ihr Gesichtsausdruck wechselte von höflicher Distanziertheit zu Interesse. »Woher kennen Sie meinen Namen?« Sie kam ein paar Schritte näher. Ruby sah die Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter; beide besaßen das gleiche dichte Haar und die vollen Lippen. Aber Isabella trug das Haar lang und offen; sie war nicht so groß wie Andrés, aber auch schmal.
»Ich kenne Ihren Bruder Andrés.«
»Andrés!« Mit zwei Schritten stand Isabella vor ihr, mit strahlenden, hoffnungsvollen Augen. »Ist Andrés hier bei Ihnen – auf der Insel?« »Nein.« Schön wäre es … »Er wohnt in meiner Nachbarschaft, in England. In West Dorset.« Sie beschloss, sonst weiter nichts über ihre Beziehung zu sagen – falls sie überhaupt noch eine hatten.
»Hat er Sie hergeschickt?« Isabella starrte sie an. Ruby rechnete halb damit, dass sie ihre Mutter zurückrufen und verlangen würde, dass sie Ruby einließ. Doch das tat sie nicht. Sie nahm Rubys Arm und schob sie über den Weg und aus dem Tor. War Andrés hier so unwillkommen? Durfte man auf dem Grundstück nicht einmal seinen Namen aussprechen? Doch Ruby ließ sich davonziehen. Sie war neugierig auf Isabella, denn sie konnte über seine Schwester viel herausfinden, und außerdem konnte sie immer noch später wiederkommen.
»Nein, hat er nicht«, gestand sie. »Ich wollte, dass er mich begleitete, aber er hat abgelehnt.«
Isabella zog ein langes Gesicht, und Ruby spürte, wie enttäuscht sie war. »Nicht, weil er Sie nicht sehen wollte«, schob sie rasch nach. »Aber wahrscheinlich wegen allem anderen, was passiert ist.«
»Er fehlt mir.« Isabella hielt Rubys Arm immer noch fest, und ihr wurde klar, dass sie zum Meer gingen – nicht zum alten Hafen, in dessen Nähe ihr Hotel lag, sondern weiter nach Norden.
Warum nicht, dachte sie. Sie fühlte sich zu dieser Frau hingezogen. »Natürlich fehlt er Ihnen.« Sie hatte nie Geschwister gehabt und konnte sich nur vorstellen, wie tröstlich das sein musste. »Und Andrés vermisst Sie.«
»Wirklich?« Isabella wandte sich ihr zu. »Wenn er doch nur zu uns zurückkommen würde.« Sie seufzte. »Wenigstens zu Besuch.«
Sie klang so betrübt. Aber als seine Schwester musste sie doch sicher wissen, warum das so war? »Aber sie sind doch nicht unglücklich hier auf der Insel, oder?«, fragte Ruby sie.
»Mir geht es ganz gut.« Isabella zuckte die Achseln. »Aberohne Andrés ist es nicht dasselbe. Er ist mein Bruder. Ich sehne
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