Julias Geheimnis
gesehen hätte. Doch Laura hatte in jener Gewitternacht eine Entscheidung getroffen – ob zum Guten oder zum Schlechten – und sich daran gehalten. Und was Ruby anging – der Inhalt der Schuhschachtel würde ihr verraten, wie sehr sie geliebt worden war, und mehr brauchte niemand zu wissen. Wichtig war nur, wie sehr man geliebt worden war.
Über die Straße sah Vivien nach Colmer’s Hill; sie betrachtete die Bäume auf dem Gipfel, die für sie immer ein Symbol für West Dorset gewesen waren. Sie hatte nicht lange gebraucht, um sich in Dorset zu verlieben. Sie hatten einfach wieder hierher zurückkommen müssen. Und Tom hatte recht, es war ein herrlicher Tag. Der Himmel war von einem milchig blauen Opalton, und die Hügel waren so frisch und grün wie der Frühling selbst.
Sie hatte ihre Tochter vor der Wahrheit beschützt – Vivien hatte nie etwas anderes gewollt, als Ruby zu beschützen und auch ihr gemeinsames Leben. Aber Ruby hatte ein Recht auf die Wahrheit. Vivien klammerte sich fester an Tom. Hatte das nicht jeder? Auch wenn es wehtat?
Ob Ruby entschied, mit diesem Wissen etwas anzufangen – nun, das lag bei ihr. Vivien beschloss, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Am nächsten Wochenende, wenn sie zu Besuch kam. Sie musste es tun. Und dann konnte Ruby entscheiden. Ihre Tochter war stark, klug und unabhängig – hatte sie sie nicht so erzogen? Sie war in der Lage, damit fertigzuwerden. Und es war das Richtige. Tom würde das einsehen; er würde es einsehen müssen.
Am Kreisverkehr bremste Tom ab. »Ist das Leben nicht aufregend, mein Liebling?«, schrie er ihr zu.
»Ja!« Sie hörte das Adrenalin in seiner Stimme. Sie dachte an das Karussell und ihren ersten Blick auf den hochgewachsenen Jungen mit dem dunklen Haar und den braunen, bernsteinfarben gefleckten Augen; und sie klammerte sich noch fester an ihn, als er mit dem Motorrad ausscherte, um ein Auto zu überholen.
If paradise … Ja, es war aufregend. Mit Tom war es das immer.
37. Kapitel
R uby war erleichtert, als sie endlich in ihrem Hotel angekommen war. Sie nahm sich noch die Zeit, zu duschen und sich bei einer Tasse Kaffee zu entspannen, bevor sie aufbrach, um das Dorf zu erkunden.
Sie ging durch das Labyrinth aus schattigen Gassen, das die Altstadt bildete, vorbei an vielen heruntergekommenen Gebäuden in traditioneller Bauweise – weiß getünchter Stein, in den Platten aus Vulkanlava eingelassen waren, die Muster und Kontraste in den Mauern schufen. Das Dorf wirkte eher schrullig als hübsch. Auf der Straße, wo man eher mit einem Auto gerechnet hätte, parkte beispielsweise ein Boot, und auf dem Dach des Restaurants Vaca im Hafen thronte eine große, blaue Kuh. Sie musste lachen. Auf der anderen Seite des Hafens bildeten die grauen Felsen eine hohe Klippe. Auf den Stein waren in Weiß die Worte Viva la Virgen de Buen Viaje gemalt; und in die Pflastersteine der Calle Muelle de Pescadores war eine steinerne Fischersfrau eingelassen, die aufs Meer hinaussah. Vielleicht wünschte sie ja den Fischern eine gute Reise. Vielleicht wartete sie auch einfach auf ihren Mann.
Ruby lehnte sich an ein hölzernes Geländer, schaute auf den Ozean dahinter hinaus und dachte an Andrés. Auf ihn würde sie lange warten müssen. Seit sie vor inzwischen drei Tagen sein Atelier verlassen hatte, hatte er sich nicht bei ihr gemeldet. Das war nicht überraschend. Würde er ihr je verzeihen, dass sie hierhergekommen war, auf die Insel seinerGeburt? Und würde sie ihm je vergeben, dass er so heftig reagiert hatte und dass er sie allein hatte herfliegen lassen? Nein, darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Sie war hier, und nur darauf kam es an. Sie musste sich auf die Suche konzentrieren, die vor ihr lag. Als sie aufsah, erblickte sie einen Taubenschwarm, der in Formation flog. Die Flügel der Vögel hoben sich silberweiß vor dem tiefblauen Sommerhimmel ab. Dieser Ort mochte heruntergekommen wirken, aber er hatte etwas Besonderes.
»Stürz dich ins Abenteuer«, hatte Mel gesagt, als sie sie angerufen und ihr von ihren Plänen erzählt hatte.
»Ich werde nur gut eine Woche dort sein«, hatte Ruby ihr erklärt. Aber sie nahm erneut diese Traurigkeit in Mels Stimme wahr und hoffte, dass sie sie nicht in der Stunde der Not im Stich ließ. »Geht es dir gut?«, fragte sie.
»Prima.« Sie konnte beinahe sehen, wie ihre Freundin sich reckte, ihr rotbraunes Haar zurückwarf und noch eine Schicht Lippenstift auftrug. Sie würde
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