Julias Geheimnis
dem Bild der Klippen am Chesil Beach. Es stand nicht zum Verkauf, und er wusste auch schon, wer es bekommen sollte.
Es war später Nachmittag, und es dämmerte bereits. Der weiche Sonnenschein auf den rosig-braunen Berghängen verwandelte sich in das schwefelgelbe Licht, an das er sich so gut erinnerte – das Licht, in dem er gern gemalt und das er gern eingefangen hatte, das Licht, das mit grünen Strahlenbündeln auf die weißen Häuser und den goldgelben Sand schien. Es war ein Licht wie aus einer anderen Welt, das diese trostlose Szenerie beinahe in eine Mondlandschaft verwandelte, ein einzigartiges Licht, das Andrés seit seinem Weggang nicht mehr gesehen hatte und bei dem ihm der Atem stockte.
Als der Tindaya in Sicht kam, fuhr er langsamer. Der heilige Berg. Einmal war er mit Isabella auf seinem Motorroller hierhergefahren. Sie hatten den Weg zwischen denBruchsteinmauern genommen, und direkt vor ihnen hatte der Montaña Tindaya gelegen. Er schimmerte graubraun im blassen Morgenlicht und war mit braunen, weißen und rostfarbenen Streifen überzogen, Rinnen, die das Regenwasser hinterlassen hatte. Über ihnen war der Himmel klar wie ein Diamant gewesen.
Sie hatten den Roller an den heruntergekommenen kleinen Sandsteinhäusern im Schatten des Berges stehen gelassen und waren über den Teppich aus burgunderroten Mittagsblumen, dann über den kahlen Boden und später über Schutt auf dem Weg gegangen, der die Hänge des Tindaya hinauf auf den nackten Felsen des Gipfels führte. Es war kein einfacher Aufstieg gewesen; kurz vor dem Gipfel waren sie sogar auf allen vieren geklettert. Aber es war die Mühe wert gewesen. Vom Gipfel aus konnten sie in der Ferne andere Bergspitzen erkennen, die Insel Lanzarote und die weißen Einsprengsel links an der Küste, die La Oliva und Ricoroque bildeten. Die beiden waren gekommen, um nach den Hieroglyphen zu suchen, den Felszeichnungen. Es war ein Spiel.
» Aquí está! « – hier ist es. Isabella hatte die ersten beiden gefunden. Sie waren an einem glatten, aufrecht stehenden Felsblock an der Ostseite des Gipfels angebracht, fünf oder sechs Meter von der Spitze entfernt. »Hier, komm und schau dir das an!« Wie er gehört hatte, gab es über hundert solcher Felszeichnungen von Füßen. Diese sogenannten Podomorphen waren in die traquita , in den Trachyt-Stein, eingeritzt. Wenn man weiter am Kamm entlangging, befanden sich am nächsten Felshaufen noch weitere. Einige waren nicht mehr so gut erkennbar, aber andere immer noch klar und beeindruckend. Andrés hatte gehört, dass sie alle zum Teide ausgerichtet waren, dem immer noch aktiven Vulkan auf Teneriffa, von dem man glaubte, dass der Teufel darin wohnte. Und als er so dastand und zum Teide sah, dessen Gipfel von dichten Wolken umhüllt war, glaubte er es beinahe auch.
Der Abstieg hatte länger gedauert, und sie hatten sich an den Händen gehalten. Denn Andrés machte sich Sorgen, Isabella könne zu schnell gehen, nicht achtgeben und den Halt unter den Füßen verlieren. Aber sie war trittsicher wie eine Bergziege, und schließlich war er es, der stolperte; und es war Isabella, die mit festem Stand verhinderte, dass er stürzte.
Wer konnte ihn jetzt auffangen? Isabella und er hatten im Lauf der Jahre den Kontakt verloren. Ihre Leben hatten sich in so unterschiedliche Richtungen entwickelt. Seine Eltern kamen ihm wie Fremde vor. Und Ruby …
Ob Geister auf dem Berg wohnten? Manche Leute glaubten daran. Es war nicht zu leugnen, dass dieser Ort Energie ausstrahlte. Der Tindaya schien ihn geradezu magnetisch anzuziehen. Den ganzen Tag über hatte er es damals gespürt. Es war, als hätte etwas Dunkles über ihm gehangen, ein Druck. Und am nächsten Tag war es dann passiert: Er hatte seinen Vater im Atelier ertappt und ihn zur Rede gestellt. Es war der Tag gewesen, bevor Andrés für immer von zu Hause weggegangen war.
Andrés fuhr weiter nach La Oliva. Die Stadt war noch immer ein wichtiges Zentrum der Insel. Im siebzehnten Jahrhundert war Fuerteventura von hier aus verwaltet worden. Doch auch hier nahm er die Umgehungsstraße, fuhr vorbei an der hellgrünen, mit Flechten bewachsenen, unfruchtbaren Vulkanerde von Rosa de los Negrines und bog nach links in Richtung Ricoroque ab. Er dachte an seine alten Geschichtsstunden in der Schule, als er etwas über die Geschichte der Insel gelernt hatte. Über die französischen Siedler, die einstauf einer grünen Insel voller Feigenbäume, Palmen und Olivenhainen angelandet
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