Julias Geheimnis
die Eltern, die sie großgezogen hatten, geliebt hatte, verspürte sie einen verzweifelten Drang nach der Wahrheit. Die Wahrheit. Sie war auch Schwester Julia wichtig. Sie hatte Unrecht getan, sie alle hatten das. Aber dieses eine konnte sie tun: Sie konnte die Wahrheit sagen.
Schwester Julia schlug das Buch auf und überflog die Namensliste auf der ersten Seite. Nun konnte sie ein wenig Wiedergutmachung für all diese Sünden leisten. Und vielleicht konnte Schwester Julia dann vollkommenen Frieden finden – endlich.
42. Kapitel
A ndrés war nicht auf die nostalgischen Gefühle vorbereitet, die ihn überkamen, als das Flugzeug zum Landeanflug ansetzte. Durch Wolkenlücken hindurch erhaschte er Blicke auf den campo . Zuerst wirkte die Wüstenlandschaft seiner Kindheit unverändert. Öde wie immer erstreckte sie sich unter ihm, als das Flugzeug von Norden her anflog und der Küste folgte. Er sah ockerfarbenen Sand und grauen Fels, durchzogen von Wegen und Pfaden aus uralter Zeit, Berge, die fast so alt waren wie die Zeit, mit wolkenverhangenen Gipfeln. An der Ostküste schwenkte die Maschine auf das Meer hinaus, und das intensive Blau des Ozeans ging von dem blendenden Türkis am Ufer in das tiefste Marineblau über. Die Maschine legte sich schräg, als sie sich in Richtung Süden wandte, sodass sie gegen den Wind auf der Insel landen konnte.
Sie sanken tiefer, und die Wolken wichen beiseite, als verließen sie einen Nebel. Jetzt konnte Andrés die Veränderungen erkennen: das knallige Grün des Golfplatzes, der enorme Mengen von ihrem kostbaren entsalzten Wasser verschlingen musste, das chemische Blau der Swimmingpools und die orangefarbenen Touristenkomplexe. Aber in Ricoroque würde es nicht so sein. Er lehnte sich zurück und betrachtete den sanft wogenden Ozean, während die Maschine zur Landung ansetzte.
Als er das Flugzeug verließ, umhüllte ihn eine Wärme, die ihm sehr vertraut war. Im Terminal herrschten dann allerdings die Gerüche vor – spanische Zigaretten, starker Kaffee und Olivenöl, geräucherter Schinken und Sonnencreme. Es war lange her, aber es fühlte sich an, als wäre es erst gestern gewesen.
Andrés holte seinen Mietwagen auf dem Flughafenparkplatz ab und brach nach Norden auf. Er hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um diesen Last-Minute-Flug zu bekommen. Und er hatte niemandem mitgeteilt, dass er kommen würde – nicht einmal Ruby. Warum hatte er das eigentlich nicht getan? Wahrscheinlich wollte er nicht, dass sie sich auf seinen Besuch vorbereiten konnten. Er wollte ebenso spontan zurückkehren, wie er fortgegangen war. Und was Ruby anging … Zuerst musste er die Wahrheit herausfinden. Er umklammerte das Steuer fester. Erst dann konnte er an Ruby denken.
Er nahm die Umgehungsstraße und umfuhr die Hauptstadt. Kaum hatte er die urbane Region Rosario hinter sich gelassen, veränderte sich die Landschaft. Diese ländliche Gegend mit ihren verstreuten Dörfern sah größtenteils noch so aus, wie er sie in Erinnerung hatte. In siebzehn Jahren hatte sie sich kaum verändert: kleine, gedrungene Steinhäuser und weiße Kirchen, landwirtschaftliche Kleinbetriebe, Ruinen, eine Bar und ein Lebensmittelladen. Andrés widerstand dem spontanen Drang, anzuhalten und ein Bier zu trinken. Die glatte Straße, auf der er unterwegs war, bildete einen scharfen Gegensatz zu diesen zerklüfteten Felsen und erodierten Bergen, die tiefe Schatten auf die unter ihnen liegenden Dörfer warfen.
Manche Dinge hatten sich sehr verändert, und manches war gleich geblieben.
Andrés öffnete lieber das Fenster, als die Klimaanlage desWagens einzuschalten. Die warme Luft schien rein und frisch zu sein. Er wollte sie in tiefen Zügen einatmen, denn sie schmeckte so anders als die englische Luft. Ihm wurde bewusst, dass er sie vermisst hatte. Er hatte sich an die Luftverschmutzung gewöhnt und daran, sogar an einem klaren Nachthimmel die Sterne nicht sehen zu können.
Andrés dachte an die Sommerausstellung. Er hatte so viel Energie hineingesteckt, aber jetzt kam sie ihm ganz unwichtig vor. Dennoch hatte er alles gründlich vorbereitet, und eine seiner Kolleginnen – Susie, die mit Keramik arbeitete und das Atelier neben seinem gemietet hatte – hatte sich bereit erklärt, seine Schichten an der Empfangstheke zu übernehmen. Kurz vor seiner Abreise hatte Andrés noch letzte Hand an seinen Abschnitt der Ausstellungsfläche gelegt und einen roten Aufkleber auf seinem zentralen Werk angebracht;
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