Julias Geheimnis
waren. Dass es auf Fuerteventura einmal dichte Wäldern aus Weiden und Kiefern und sprudelnde Wasserläufe gegeben hatte, war heute nur noch schwer vorstellbar, überlegte Andrés. Und dann waren die Ziegen gekommen, die, wie jedermann wusste, alles fraßen, die Kalkbrennereien, die gewaltige Mengen an Holz schluckten, die Dürren und schließlich die Kaninchen und Barbary-Atlashörnchen. Jetzt war das Land hier praktisch eine Wüste.
Auf der langen, geraden Straße nach Lajares trat er aufs Gas. Er war fast da. Vor sich sah er die Einsiedelei und die Windmühlen – los molinos . Ob die Mühlen noch in Betrieb waren? Lebten der alte Müller und seine Frau noch dort? Hatte die Zeit wirklich stillgestanden, seit Andrés fortgegangen war?
Die Straße nach Ricoroque bog nach links ab, und Andrés erhaschte einen ersten Blick auf den Leuchtturm, das Dorf und das Meer. Sein Meer. Sein Dorf. Er konnte es noch riechen – den trockenen Stein und die Erde, die salzverkrusteten casas . Der Lavafluss setzte sich fort und führte an der alten, mit Dattelpalmen bestandenen Straße entlang. Er verlief parallel zu dem Fußweg, der zum alten Kloster führte, und Andrés vermutete, dass er inzwischen zum Radweg für Touristen geworden war. Das Kloster ließ ihn an Ruby denken. Warum hatte sie sich nur mit einer Nonne getroffen?
Die gerade, breite Straße führte ihn mitten in die Stadt hinein. Andrés holte tief Luft. Hatte er sich all diese Jahre etwas vorgemacht? Er hatte keine Ahnung, ob er überhaupt Antworten auf seine Fragen bekommen würde. Er wusste nicht, wie man ihn empfangen würde. Aber darauf kam es nicht an. Er war zu Hause.
Er parkte vor der casa . Seine Mutter hatte ihm von einigen der Veränderungen erzählt, aber trotzdem war er verblüfft. Das kleine Haus war inzwischen auf die doppelte Größe angewachsen. War das noch das Zuhause seiner Kindheit? Andrés war sich nicht sicher. Er betrachtete den mit weißem Kies bestreuten Hof und die Metallskulptur in der Mitte, die ein wenig wie ein riesiger Schneebesen aussah. Es schien nicht mehr sein Hof zu sein. Aber wenigstens stand der Johannisbrotbaum noch in der anderen Ecke. Am metallenen Eingangstor hielt er inne. War er unfair? Sein Vater hatte bei null angefangen und viel erreicht. Aber zu welchem Preis?
Statt zur Haustür zu gehen und anzuklopfen wie ein Fremder, holte Andrés tief Luft und ging hinters Haus. Jetzt war er hier, und er würde es zu Ende bringen. Durch das offene Küchenfenster sah er, wie seine Mutter geschäftig umherlief und Essen machte. Mit Tränen in den Augen stand er da und schaute ihr zu. Er hätte sie nicht so lange allein lassen sollen, war alles, was er denken konnte. Er hätte nicht so lange fortgehen sollen, ohne sie zu besuchen. Was hatte er sich nur dabei gedacht?
Plötzlich drehte sie sich um und sah ihn. Sie erstarrte.
»Mein Sohn!«
Er hörte ihren Aufschrei durch das offene Fenster, und dann stieß er die Tür auf und lag in ihren Armen, und sie wiegte ihn wie ein Kind.
»Mama.« Er vergrub das Gesicht in ihrem Haar. Er roch, dass sie gebacken hatte; ein Duft, der ihn augenblicklich in seine Kindheit zurückversetzte; in die Küche, in der er stundenlang gemalt hatte, während seine Mutter Gemüse und Meeresfrüchte geputzt und Brot gebacken hatte, während siedas Abendessen gekocht, abgewaschen und dabei leise vor sich hingesummt hatte. War sie mit ihrem Leben als Ehefrau zufrieden gewesen? Zu Beginn vielleicht. Aber später war sie unglücklich gewesen. Das wusste er. Was hätte er sonst tun können, um etwas daran zu ändern?
»Andrés!« Sie schob ihn von sich weg. Ihre Kraft hatte ihn schon immer erstaunt, da sie eine sehr kleine Frau war. »Bist du es wirklich? Ist das möglich?«
»Ich bin es«, versicherte er ihr. Gott sei Dank war sein Vater nicht in der Nähe. Andrés war noch nicht so weit, ihn zu treffen. »Wie geht es dir, Mama? Geht es dir gut?«
»Mir? Ich bin gesund wie ein Ochse!« Sie lachte. Kurz umwölkte sich ihre Miene.
»Und Papa?« Wo mochte er sein? Oben in seinem Atelier, nahm er an. Wenn es ihm auch nur so gut ging, dass er stehen konnte, würde er in seinem Atelier sein.
Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, und sie sah zur Treppe. Was sie wohl empfand? Nervosität? Furcht? Doch dann umarmte sie ihn wieder, bevor sie einen Schritt zurücktrat, um ihm forschend ins Gesicht zu sehen. »Du bist blass.«
Er lachte. »Ich wohne ja auch in England.«
»Du bist müde.«
»Ich bin
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