Julias Geheimnis
hinausgesehen. »Aber es kommt noch mehr.«
Schwester Julia erinnerte sich an das Gefühl, das sie auch immer bei der Geschichte der Frau gehabt hatte – dass das nicht alles gewesen war.
Schwester Julia setzte sich wieder auf den Stuhl. Sie war erschöpft. Dieser Tage war sie oft müde. Aber endlich war ihr ein Zeichen geschickt worden. Sie faltete die Hände. »Danke, Gott.« Sie wusste nicht, woher diese junge Frau – Ruby – kam. Eine junge Frau, die nach ihrer Mutter suchte. Eine Journalistin. Deutlicher konnte ein Zeichen nicht sein. Jetzt konnte sie ihre Geschichte erzählen. Sie konnte sie Ruby erzählen. Und Ruby würde sie in die Welt tragen. Der Gerechtigkeit würde Genüge getan werden. Sie würde Ruby das Buch mit den Namen geben, und dann würde sie endlich frei sein.
Auf dem Schreibtisch standen eine Wasserflasche und ein Glas, und Schwester Julia schenkte sich mit zitternder Hand Wasser ein. Aber würde die Zeit ausreichen? Ihr eigenes Ende war nahe. Würde die junge Frau zurückkommen, wie sie versprochen hatte? Schwester Julia trank einen Schluck. Sie musste darauf vertrauen.
Enrique Marín hatte von seinem Sohn gesprochen, und Schwester Julia hatte zugehört. Väter und Söhne … Mütter und Töchter … Anscheinend war es ihr Schicksal, in solche Familienangelegenheiten verstrickt zu werden.
»Er ist vor vielen Jahren von zu Hause fortgegangen«, hatte Enrique gesagt. »An seiner Stelle hätte ich genauso gehandelt.«
Schwester Julia neigte den Kopf. Enrique Marín war zu Selbsterkenntnis gelangt. Das war etwas, was viele Menschen in ihrem ganzen Leben nicht erreichten.
»Ich war verbittert und neidisch.« Enrique Marín machte eine kurze Pause, weil die Natur ihn übertönte. Der Windblies heftig, und die Flut rollte an die Küste. Das Wasser stürzte über die schwarzen Felsen und ließ eine Gischtwolke aufsteigen. »Ich habe ihm die Schuld für etwas gegeben, auf das er keinen Einfluss hatte.«
Nachdem er ihr die ganze Geschichte erzählt hatte, hatte Schwester Julia einen lang gezogenen Seufzer ausgestoßen. Ihre eigenen Probleme lasteten ihr immer noch schwer auf dem Herzen.
»Sie können es mir erzählen, Schwester«, hatte Enrique Marín gesagt. »Ich bin hier. Ich bin niemand, nur ein Mensch. Wir sind hier auf einer einsamen Klippe. Niemand kann uns hören. Sie können es mir sagen.«
Und Schwester Julia hatte in seine dunklen, harten Augen gesehen und ihm ihre Geschichte erzählt. Während über ihnen die Möwen kreischten und unter ihnen die Wogen krachten, erzählte sie ihm, was in Barcelona geschehen war. Alles, was sie gesehen, miterlebt und getan hatte.
»Möge Gott geben, dass diese Namen nicht verloren gehen«, sagte sie, als sie zu Ende gesprochen hatte. Vielleicht lag es an dem einnehmenden Wesen des Mannes, dem Blick in seinen dunklen Augen, dass sie ihre Geschichte erzählt hatte. Vielleicht musste sie um ihres Seelenfriedens willen alles loswerden. Vielleicht hatte sie ihm aber auch einfach deshalb davon erzählt, weil sie glaubte, nicht nur er solle es wissen, sondern jeder sollte davon erfahren.
Noch einmal zog Schwester Julia die Schreibtischschublade auf und nahm das von Reyna Marín liebevoll bestickte Tischtuch heraus. Kurz hielt sie den abgetragenen Ehering ihrer Mutter und das Stickmustertuch, das sie als Mädchen angefertigt hatte, in der Hand. Sie nahm das alte, sepiafarbene Foto, das sie und ihre beiden Schwestern Matilde undPaloma zeigte. Beide lebten nicht mehr. Ihre Familie gab es nicht mehr, und Schwester Julia war allein. Aber war sie das nicht schon seit langer Zeit?
Sie nahm ihr Buch mit den Namen heraus.
Hätte sie anders handeln können? Vielleicht. Aber sie war schwach, und wie Enrique Marín war sie ein Mensch. Und sie war genauso schuldig wie er.
Wenn sie nur den Kindern helfen könnte … Das hatte sie immer gewollt. Denn sie waren die Unschuldigen, die Hilflosen. Sie hatten nichts verbrochen. Und es war das Geburtsrecht eines jeden Kindes, die Wahrheit über seine Herkunft zu erfahren. Manche wollten das vielleicht nicht. Doch die anderen … Die meisten Aufzeichnungen waren vernichtet worden. Aber Schwester Julia hatte lange in der Canales-Klinik gearbeitet. Dieses Buch konnte so vielen von ihnen helfen. Schwester Julia berührte den schlichten Einband, der keinen Hinweis darauf lieferte, was sich darin befand.
Wieder dachte Schwester Julia an die junge Frau. Diese Ruby besaß so viel Leidenschaft. Obwohl sie
Weitere Kostenlose Bücher