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Julias Geheimnis

Julias Geheimnis

Titel: Julias Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Hall
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Andrés setzte sich wieder, doch sein Vater blieb stehen. Er trank sein Bier aus der Flasche und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab.
    Sein Vater hustete heftig und spuckte in ein Taschentuch. »Warum ausgerechnet jetzt?«, wollte er wissen. »Warum bist du gerade jetzt zurückgekommen? Dachtest wohl, ich liege schon auf dem Sterbebett, was? Ja, ja, nichts zieht die Geier so an wie ein Sterbender.«
    »Enrique   …« Seine Mutter tätschelte Andrés die Hand.
    »Denkt, er wäre zu gut für uns   – für dieses Haus«, murrte Enrique. »Denkt, er ist zu gut für die Insel. Geht nach London, pah!« Sein Vater fluchte verächtlich. Dann marschierte er, immer noch vor sich hin brummend und mit dem Stumpen in der Hand aus der Küche.
    Sie hörten seine Schritte auf der Treppe und den Hustenanfall, der ihn schüttelte, als er oben ankam.
    Sein Vater hatte ihn nicht geküsst, ihm nicht einmal die Hand geschüttelt. Sein eigener Vater, den er seit siebzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte, hatte ihn nicht umarmt, ihm nicht gesagt, wie sehr er sich freue, ihn zu sehen. Warum zum Teufel sollte Andrés überhaupt mit ihm reden?
    Aber er war aus einem bestimmten Grund hergekommen. Er stand auf.
    »Andrés   …«
    Er drehte sich um. »Ist schon in Ordnung, Mama«, sagte er, obwohl es das nicht war. Die Wahrheit war, dass es noch genauso wehtat wie früher.
    »Achte gar nicht auf ihn«, flüsterte seine Mutter und beugte sich vor. »Du weißt doch, wie er ist. Er meint es nicht so.«
    So etwas hatte sie ihm immer zugeflüstert. Er ist eben so . Doch Andrés wusste, dass sein Vater es genauso meinte. Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er es immer gewusst. Sein Vater hatte ihn nie geliebt. Sein Vater hatte ihm nie vertraut. Sogar als er seinem Vater bewiesen hatte, dass er ebenfalls malen konnte, dass er vielleicht ein klein wenig vom Talent seines Vaters geerbt hatte, selbst da hatte es ihn nur wütend gemacht. Als fühle er sich von dem Jungen bedroht, der das Meer zum Leben erwecken konnte, als könne dieser Knabe ihm einen Teil seines Ruhms, seiner Macht und seiner Herrlichkeit wegnehmen. Sein Vater freute sich nicht, ihn zu sehen   – und warum sollte er auch? Ja, das war seine Art. Dazu gehörte, dass er Andrés nicht liebte.
    Aber Andrés war zu einem bestimmten Zweck hergekommen, und er hatte nicht vor, sich von dem alten BastardVorschriften machen zu lassen. Er lächelte seiner Schwester zu und legte sanft die Hand auf die Schulter seiner Mutter. Dann ging er die Treppe hinauf zu seinem Vater.
    Enrique war gar nicht empört darüber, dass Andrés sein Atelier betrat. Zum ersten Mal kam Andrés der Gedanke, dass das Poltern seines Vaters vielleicht etwas anderes verbergen sollte   – ein anderes Gefühl vielleicht. War das möglich?
    »Du malst immer noch, oder?«, knurrte Enrique ihn an.
    War es tatsächlich möglich, dass ihn das interessierte? Auch das wäre das erste Mal gewesen. »Ja.« Andrés ging über die mit Farbe bespritzten Fliesen und sah sich um. Er bewegte sich nicht so in dem Raum wie damals als Junge, als er sich in das Atelier seines Vaters geschlichen hatte, sondern so, als hätte er jedes Recht, hier zu sein. Er roch den Gips, die Trockenheit von Papier und Farben, den harzigen Geruch von Terpentin und Ölen.
    »Welche Themen?«
    »Größtenteils Seestücke.«
    »Nichts Neues also.« Sein Vater stand auf seine typische Art da: hochaufgerichtet, als wäre er der wichtigste Mann auf Gottes Erde. Aber dann holte er rasselnd Luft und setzte sich. Eigentlich sackte er auf dem nächstbesten Stuhl zusammen.
    »Geht es dir gut, Papa?« Andrés trat einen Schritt auf ihn zu, doch Enrique verscheuchte ihn mit einer Handbewegung.
    »Mach kein Theater. Mach bloß kein Theater.« Wieder hustete er, dieses Mal noch heftiger, und spuckte erneut in sein Taschentuch. »Natürlich geht es mir nicht gut. Sie hat es dir gesagt, stimmt’s?«
    Andrés nickte. »Sie hat es mir erzählt.«
    Enrique fluchte. Sein Gesicht war bleich. Andrés wurdeklar, dass er wütend war. Verdammt sollte er sein. Konnte dieser Mann denn nie aufhören, zornig zu sein?
    Andrés ging vorbei an den Staffeleien und den eingestaubten Abdecktüchern zur Fensterfront, die einen Panoramablick über die Berge und die Küste bot. Die Berge lagen weich und rosig unter dem blauen Abendhimmel. Der Wind hatte nachgelassen, und das Meer war glatt. Von hier aus konnte Andrés sogar das maurische Strandhaus erkennen, das in der Lagune

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